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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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am Türklopfer zog.
    Drinnen herrschte Finsternis. Keine von silbrigem Licht übergossene Finsternis wie draußen, sondern echte, undurchdringliche Finsternis, die modrig und irgendwie eigenartig roch – nach Wachs vielleicht, nach Mäusen oder nach altem Holz. Oder vielleicht einfach nach dem Staub, der sich über die Jahrhunderte hinweg hier angehäuft hatte?
    Als die Kundschafterin einen Schritt weiterging und die Tür hinter sich zuzog, war es, als sei Gottes Welt verschwunden, von Finsternis und Tonlosigkeit verschluckt, nur durch den eigenartigen Geruch und sonst nichts erkennbar.
    Polina Andrejewna blieb stehen und schnupperte. Sie wartete eine Weile, ob ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen würden. Doch das geschah nicht – offenbar drang überhaupt kein Licht, und sei es noch so verschwindend wenig, hier herein.
    Sie holte die Streichhölzer aus der Reisetasche, riss eines an und entzündete eine Kerze.
    Ein ziemlich breiter Stollen, dessen Gewölbe sich in der Dunkelheit verlor, führte in die Tiefe des Hügels. Die Wände waren uneben, weißlich, entweder mit Kalksteinblöcken oder mit Muschelkalkstein belegt. Frau Lissizyna hielt die Kerze ein Stück höher und stieß einen Schrei aus.
    Dazu hatte sie auch allen Grund. Es waren keineswegs Kalksteinblöcke, sondern lauter Tote, einer über den anderen gelegt und zu einem übermannshohen Stapel aufgeschichtet. Keine Skelette, sondern aus getrocknete Gebeine, mit Haut überzogene Mumien, mit eingefallenen Augenhöhlen, eingesunkenen Mündern und fromm über der Brust gefalteten Händen. Als sie die knochigen Finger des obersten Leichnams mit den langen gebogenen Nägeln sah, stöhnte Polina Andrejewna leise auf. Es war entsetzlich!
    Sie hätte den schaurigen Ort am liebsten schnellstmöglich verlassen, aber das ging nicht. Die Reihen mit Toten zogen sich an den Wänden entlang, es waren Hunderte und Aberhunderte. Diejenigen, die sich nah am Eingang befanden, waren fast nackt, spärlich bedeckt von vermoderten Kleidungsfetzen – offenbar waren sie am längsten tot; dann wurden die Wände allmählich dunkler, weil die Gewänder der Mönche besser erhalten waren. Aber die Kapuzen, die die Gesichter der heiligen Mönche zu Lebzeiten bedeckt hatten, waren sämtlich aufgeschnitten, und Frau Lissizyna registrierte verblüfft die erstaunliche Ähnlichkeit dieser Totenköpfe: Mit ihren glatten Schädeln, ohne Augenbrauen, ohne Schnurrbärte oder Bärte, sogar ohne Wimpern, glichen die Gerechten einander wie Brüder. Bei dieser Entdeckung verflog mit einem Mal Polina Andrejewnas Angst, die sie beinahe dazu bewogen hätte davonzulaufen, so schnell wie möglich davonzulaufen aus diesem Totenreich.
    Es war kein Totenreich, sagte sie sich, sondern die Pforte zum Paradies. Es war gleichsam die Garderobe, in der die reinen Seelen ihr irdisches Gewand ablegten, bevor sie ins Himmelreich eintraten. Hier war es, dieses Gewand, das sie nicht mehr benötigten. Hier lag es und verfiel.
    Allerdings war der Verfall nicht besonders stark, verbesserte sich die Ermittlerin, die wieder Mut geschöpft hatte. Diese Körper gehörten schließlich nicht einfachen Menschen, sondern heiligen Mönchen. Daher sind auch ihre Gebeine unvergänglich. Eigentlich müsste es hier nach Aas und Verwesung stinken, aber wenn hier etwas verwest, dann höchstens die Zeit selbst. Das ist der Geruch, den man hier wahrnimmt: die Verwesung der Zeit.
    Furchtlos ging sie nun zwischen den aus Leichenstapeln bestehenden Wänden weiter. Dann hörten die Gebeine auf. Polina Andrejewna erblickte linker Hand die nackte Steinwand und rechter Hand einen niedrigen Stapel mit nur drei Leichen.
    Sie beugte sich über den obersten Leichnam und erkannte, dass dieser Mensch erst vor kurzem gestorben war. Durch die Falten der aufgeschnittenen Kapuze blitzte der kahle Scheitel hervor, das nackte, zerfurchte Gesicht schien nicht tot, sondern schlafend.
    Der alte Mönch Feognost. Er war vor einer Woche verstorben, roch aber nicht nach Verwesung. Oder war die Zusammensetzung der Luft hier in der Höhle eine andere? Diesen lästerlichen Gedanken, den ihr gewiss der ewige Zweifler und Feind der Menschen eingeflüstert hatte, vertrieb Polina Andrejewna entschieden. Er war ein heiliger Mönch, darum verweste er nicht.
    Der Stollen führte weiter in die undurchdringliche Finsternis und verlief leicht ansteigend. Von dort oben, aus dem Inneren des Hügels, drang unvermittelt ein kaum vernehmbarer Laut, beunruhigend und

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