Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
und heftig.
    Ein junger Mann in einer Kutte mit zurückgeschlagener Kapuze zog ein zwischen zwei Findlingen verborgenes, wendiges Boot hervor, setzte sich hinein, stieß sich mit dem Ruder ab und ließ dieses, als er ein Stück auf den See hinaus gerudert war, auf den Boden des Bootes fallen. Stattdessen stellte er einen leichten Mast auf und setzte ein weißes Segel in den Wind. Das leichte Boot glitt pfeilschnell durch die Wellen – schneller wahrscheinlich als der Dampfer, zumal der Dampfer den Windungen der Fahrrinne folgen musste, während Sandbänke für das kleine Boot kein Problem darstellten.
    Der Segler hatte einen Kompass dabei, den er hin und wieder zu Rate zog* offenbar weil er befürchtete, im Dunkeln vom Kurs abzukommen. Von Zeit zu Zeit drehte er am Steuerruder, oder er veränderte den Winkel des Segels, doch als die aufgehende Sonne einen roten Schimmer über den von einem Dunstschleier bedeckten See warf, beruhigte der junge Mann sich endgültig.
    Der erste zaghafte Sonnenstrahl zeichnete nämlich eine Linie bis zum Horizont und entzündete am Rande des Himmels einen goldenen Funken, der nicht mehr erlosch. Das war der Glockenturm der Kirche »Aller Betrübten Freude«, der wichtigsten Kirche der Stadt Sineosjorsk, der an klaren Tagen dreißig Werst weit zu sehen war. Folglich war das Boot nicht vom Kurs abgekommen, sondern genau in die richtige Richtung gefahren.
    Der Steuermann richtete den Bug des kleinen Bootes so aus, dass er geradewegs auf die Kirche zusteuerte, und summte ein fröhliches Lied vor sich hin.
    Alles fügte sich, wie es besser nicht sein konnte. Noch zwei Stunden, und die Fahrt würde ein Ende haben. Dass der Wind drehen würde, war nicht anzunehmen. Schade natürlich, dass er nicht mehr von den wertvollen Feilspänen hatte zusammenkratzen können, doch es waren auch so etwa fünf Pfund.
    Der kleine, aber schwere Sack hing unter seiner Kutte, zwischen Brustkorb und Bauch. Der Strick hatte ihm den Nacken ein wenig wund gerieben, aber das war nicht der Rede wert. Fünf Pfund, also beinahe fünfhundert Solotnik, jeder zu . . .
    Er musste seine Berechnungen unterbrechen, weil ihn plötzlich Übelkeit befiel. Keuchend und würgend, von Krämpfen geschüttelt, beugte der junge Mann sich über die Bordwand. Danach kroch er entkräftet auf den Boden, wischte sich den Schweiß ab und lächelte unbekümmert. Anfälle von Übelkeit und Schwäche hatten ihn in letzter Zeit häufiger heimgesucht – das kam wahrscheinlich von der schlechten Ernährung und der nervlichen Anspannung. Wenn er sich ausruhte und besser ernährte, würde das alles Vorbeigehen.
    Er rieb sich verbissen die Schläfen, um den Schwindel zu vertreiben. Ein Büschel lockiger Haare blieb zwischen den Fingern hängen, und das beunruhigte den jungen Mann weit mehr als der vorherige Anfall. Aber auch nicht für lange. Natürlich, sagte er sich, einen Monat habe ich mir die Haare nicht gewaschen. Ein Wunder, dass ich mir keine Filzläuse zugezogen habe. Macht nichts, ich fahre dritter Klasse bis Wologda, ganz bescheiden, und dort ziehe ich mich um und steige in einem guten Hotel ab, wo es ein Zimmer mit Bad gibt, ein Restaurant und einen Coiffeursalon.
    Und das Laboratorium würde er besser doch nicht in der Schweiz, sondern in Amerika einrichten. Das wäre sicherer. Natürlich würde er einen anderen Namen annehmen müssen. »Mister Basilisk« zum Beispiel, das wäre doch gar nicht schlecht?
    Er fing an zu lachen, aber das Lachen missglückte und ging in einen langen, quälenden Hustenanfall über. Er wischte sich die Lippen ab und zog die schwarze Kapuze fester um den Hals. Vielleicht war es auch besser, dass er nicht länger auf der Insel geblieben war? Schon bald würde die Kälte einsetzen, der Herbst hatte sich ohnehin schon ungewöhnlich lange hingezogen. Wenn er sich jetzt noch eine Lungenentzündung zuzöge, käme das höchst ungelegen. Er hatte keine Zeit, krank zu sein.
    Die neue Strahlenphysik eröffnete Perspektiven, die der jämmerliche Kleingeist des schwachsinnigen Ljampe und die Pariser Laborratten nicht erfassen konnten. »Todesstrahlen«! Nur einem Idioten konnte so ein Blödsinn einfallen. Das war einfach eine neue Art Energie, nicht gefährlicher als magnetische oder elektrische Strahlung. Die unermessliche Macht des Atomkerns – darin lag der Schlüssel. Wer das zuerst begreifen würde, der könnte die Welt beherrschen. Mit vierundzwanzig war er dazu gerade im richtigen Alter, wie Bonaparte.
    Die Sonne

Weitere Kostenlose Bücher