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Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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aussah und auch nicht viel anders schmeckte, haben nicht einmal unsere versierten Hausfrauen identifizieren können. Aber alles war sehr nahrhaft und darüber hinaus in beruhigender Weise sättigend. Trotzdem kann mich niemand mehr davon überzeugen, daß die Russen nicht falsch programmierte Geschmacksnerven haben. Einmal beobachtete wir die Majorin, wie sie, wortgewaltig mit einem Kameraden debattierend, abwechselnd von einem trockenen Stück Kommißbrot und dann von etwas faustgroßem Weißen abbiß. Omi meinte, daß würde wohl Speck sein, Tante Else vermutete eine Art von Weißwurst; und Mami behauptete, es müsse sich um etwas Ähnliches wie Schmalzfleisch handeln. Die Majorin hatte ihr Mahl beendet und warf die Reste in den Vorgarten.
    »Jetzt will ich es genau wissen«, erklärte Omi, ließ versehentlich ihr Küchenhandtuch aus dem Fenster fallen und kämpfte sich anschließend durch die Hagebuttensträucher. »Das war Rohmarzipan«, teilte sie uns kopfschüttelnd mit, als sie mit zwei Dornen im Handrücken und dem Handtuch zurückkam. »Und so was essen die als Brotaufstrich!«
    Obwohl wir nun schon seit einer Woche ›besetzt‹ waren und uns langsam an die erdbraunen Sieger gewöhnten, tobten im Zentrum von Berlin erbitterte Straßenkämpfe, von denen wir in Zehlendorf allerdings nur akustisch etwas mitbekamen, wenn wir die schweren Geschütze röhren hörten. Gelegentlich donnerten auch noch russische Flugzeuge über unsere Häuser hinweg, worauf jedesmal sämtliche Soldaten in die Keller türmten, vermutlich, weil sie ihren fliegenden Landsleuten nicht allzu gute Treffsicherheit zutrauten. Und dann endlich in den Mittagsstunden des 30. April hämmerte ein russischer Soldat an sämtliche Wohnungstüren und verkündete den erschreckten Bewohnern strahlend: »Hitler kaputt! Krieg alle!«
    ›Alle‹ war der Krieg zwar noch nicht. Er ging sogar offiziell noch acht Tage lang weiter, aber die unbestreitbare Tatsache von Hitlers Selbstmord versetzte unsere bis dato halbwegs friedlichen Besatzer in einen wahren Siegestaumel. Sie gossen sich flaschenweise erbeuteten Alkohol hinter den Kragen, zogen lauthals grölend und äußerst tatendurstig durch die Häuser und veranlaßten meine Mutter und Frau Brüning zur sofortigen Flucht auf den Hängeboden. Darunter versteht man bei uns so eine Art Einbauschrank über der Badezimmertür, wo wir normalerweise Koffer, Reisetaschen und ähnliche platzraubende Gegenstände abstellten. In diesem für einen längeren Aufenthalt denkbar ungeeigneten Kabäuschen verbrachte Mami die vermutlich ungemütlichste Nacht ihres Lebens. Aber sie kam wenigstens ungeschoren davon.
    Am nächsten Tag hatten sich die russischen Gemüter wieder etwas beruhigt, und wer immer noch herumkrakeelte, wurde von den Offizieren mit Ohrfeigen und Fußtritten zur Räson gebracht – ohne Rücksicht auf die äußerst interessierten zivilen Zuschauer. Aber dann lief alles weiter wie bisher. Die Köche kochten, die Soldaten übten mangels einer sinnvolleren Tätigkeit Parademärsche, wobei sie sich der uneingeschränkten Bewunderung unserer männlichen Weltkrieg-I-Teilnehmer erfreuten, und sonst kümmerten sie sich mit rührender Sorgfalt um ihre im Wald angepflockten Panjepferdchen und nicht minder sorgfältig um gelegentliche Fraternisierungsversuche, bei denen sie erstaunlich oft Erfolg hatten. Die deutsch-russische Völkerfreundschaft, angeblich schon vor Jahrhunderten praktiziert, trieb neue Blüten, was besonders von Omi mißbilligend zur Kenntnis genommen wurde. »Wie können sich deutsche Frauen einem Russen an den Hals werfen?«
    »Glaubst du denn, französische Mädchen haben sich vor ein paar Jahren den Deutschen gegenüber anders verhalten?« Mami lackierte sich ungerührt ihre Fingernägel. »Mit welcher Begründung erwartest du ausgerechnet von uns Deutschen besonderen Nationalstolz?«
    Darauf wußte Omi keine Antwort. Sie registrierte aber mit sichtlicher Befriedigung, daß keine ihrer näheren oder auch weitläufigeren Bekannten in Begleitung eines russischen Soldaten gesehen wurde. Das wäre ja auch entschieden zu weit gegangen!
    Und dann war der Krieg tatsächlich zu Ende! Wann und wie wir die offizielle Bestätigung erhielten, weiß ich nicht mehr; aber irgend jemand hatte die einzig verbliebene Kirchturmglocke gegenüber vom U-Bahnhof in Bewegung gesetzt, und weil die schon seit geraumer Zeit nicht mehr geläutet hatte, mußte das ungewohnte Geräusch etwas Bedeutungsvolles verkünden.

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