Pellkartoffeln und Popcorn
Hülsners. Die andere Wohnung gehörte offiziell Familie Heidenreich, aber die war unter Mitnahme des halben Mobiliars in den letzten Märztagen zu Verwandten nach Werder gezogen, ohne jedoch offiziell gekündigt zu haben. Mithin waren sie, wie Herr Bentin das formulierte, ›vorübergehend aushäusig‹.
Unser neuer Obmann klemmte sich seine Wohnungsliste unter den Arm und begab sich zu dem russischen Oberst, der zur Zeit noch mit Feldtelefon, altersschwacher Schreibmaschine und kräftiger, junger, weiblicher Hilfskraft in einem geparkten Lastwagen sein Amt als Quartiermacher ausübte. Er prüfte das Schriftstück, verglich es mit den anderen Aufstellungen und erklärte schließlich gelassen, das Haus Nr. 174 sei beschlagnahmt. Die Bewohner hätten unverzüglich und lediglich unter Mitnahme von Kleidung und Toilettenartikeln die Wohnungen zu räumen.
Weshalb nun ausgerechnet wir die Leidtragenden sein mußten, wurde uns klar, als ein russisches Bataillon aufmarschierte und gegenüber im Wald sein Biwak aufschlug. Das Leben und Treiben der Soldaten ließ sich von unseren Fenstern aus am besten überwachen. Der Oberst hatte uns zwar versichert, daß bei ihm Ordnung und Disziplin herrschen, aber wie sagte doch schon der Genosse Lenin so treffend? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!
Während die Soldaten ihre Zelte im Wald aufbauten, schlugen wir unsere im Nachbarhaus auf. Mami und ich zogen zu Brünnings, Onkel Paul und Tante Else zu Bennichs, Omi und Opi quartierten sich bei Hülsners ein. Und Herr Leutze, der sich mit den beiden betulichen alten Damen schon nach zwei Stunden in den Haaren lag, wählte das kleinere Übel, und ging zu Herrn Bentin. Bevor wir mit Federbetten, Zahnbürsten und dem Restbestand an Eingemachtem in unsere Notquartiere zogen, mußten wir dem Oberst die Schlüssel aushändigen. Mami hatte schnell noch zwei kleine Teppiche zusammengerollt und zusammen mit dem Rosenthal-Porzellan im Keller versteckt; aber alles andere mußten wir stehenlassen, denn der Herr Oberst war inzwischen zur Besichtigung erschienen und beschlagnahmte ohne Umschweife das restliche Mobiliar.
Dazu gehörte übrigens auch Saladin. Weil wir den Papagei ja nicht ständig mit zugebundenem Schnabel herumhüpfen lassen konnten, war es nicht ausgeblieben, daß sein keineswegs mehr zeitgemäßer Willkommensgruß auch Unbefugten zu Ohren gekommen war. Vielleicht sollte er jetzt zur Strafe hingerichtet werden. Tante Else sah ihren grüngold-gefiederten Liebling schon in der Bratpfanne enden und gab sich nur schweren Herzens mit der Versicherung zufrieden, sie würde ihren vorlauten Vogel unversehrt zurückbekommen.
(Ihm ist auch tatsächlich keine Feder gekrümmt worden, lediglich sein Repertoire hatte sich um einige Worte vergrößert. Neuankömmlinge begrüßte er künftig mit »Hitler kaputt, Heil Hitler!«, und wenn er irgendwo eine Flasche entdeckte, sei es auch nur eine mit Himbeersaft oder Nagellackentferner, dann krächzte er. »Nasdarowje«. Hinterher kam meist noch etwas längeres Russisches, von dem Onkel Paul meinte, es könne sich im Hinblick auf Saladins Mentalität nur um einen saftigen Fluch handeln.)
Am meisten haderte Omi mit ihrem Schicksal. Sie sah ihre nun glücklich über den Krieg gerettete Kristallsammlung bereits in Trümmern, und von den Teppichen hatten wir auch nichts beiseite schaffen können, denn die Dinger waren zu groß und lagen überall unter den zentnerschweren Möbelstücken.
Der Herr Oberst zeigte sich beeindruckt. Er schritt ehrfurchtsvoll durch die Zimmer, betrachtete mit Wohlgefallen das so reichhaltig zur Schau gestellte Kristall, strich fachkundig mit der Hand über zwei Teppiche und verließ alsdann schweigend die Wohnung. Draußen schloß er sorgfältig die Tür ab, und während er Omi den Schlüssel in die Hand drückte, erklärte er zu ihrer großen Verblüffung: »Auch wir verstehen etwas von Wohnkultur. Ich verbürge mich dafür, daß diese Räume von niemandem betreten werden.« Anschließend zog er einen Zettel aus der Tasche und klebte ihn mit Spucke an die Wohnungstür. Was draufstand, konnten wir natürlich nicht lesen, aber Stempel und Unterschrift sahen sehr bedeutend aus. Russische Spucke klebt aber auch nicht besser als deutsche, und so befestigte Omi den Zettel vorsichtshalber noch einmal mit Büroleim, den sie auf Herrn Zilligs Schreibtisch entdeckt hatte. Heftzwecken hätte schließlich irgend jemand entfernen können!
Elf Tage später durften wir wieder in
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