Pellkartoffeln und Popcorn
unsere Wohnungen zurück. Ein General war aufgetaucht, der ebenfalls angemessenes Quartier forderte und gemäß seinem Dienstrang etwas Besseres beanspruchen konnte. Er entschied sich für ein Einfamilienhaus im Quermatenweg. Tagelang pendelten Adjutanten sowie höhere und niedere Chargen zwischen dem provisorischen Hauptquartier und der Zweigstelle Riemeisterstraße hin und her, dann muß einem der Beteiligten die Sache wohl zu umständlich geworden sein. Da sich aber der Herr General zu einem Standortwechsel nicht entschließen konnte, mußte notgedrungen der Herr Oberst seine Diensträume räumen. Zurück blieb lediglich ein Hauptmann, der aber lieber im Zelt schlief als in einem leeren Haus und sich in der Folgezeit lediglich zum Teetrinken einstellte. Er wähnte sich in dem Glauben, ausgezeichnet französisch sprechen zu können, und meine Mutter ließ ihm diese Illusion. Schließlich schmeckte russischer Tee besser als der heimische Kräutersud! Und einen Samowar hatten wir auch noch nie gesehen. Darüber hinaus wurde unser Haus verschont, nachdem die keineswegs immer friedfertigen Sieger ihre wöchentliche Wodka-Ration bereits am ersten Abend hinuntergekippt hatten und anschließend auf Beutejagd gingen.
Langsam pendelte sich so etwas Ähnliches wie ein normales Leben ein; wenn auch das, was gestern noch normal war, morgen schon verboten sein konnte.
Das betraf ganz besonders die Ausgangssperre. In der Zeit von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens durfte sich keine Zivilperson im Freien aufhalten; es sei denn, sie besaß eine entsprechende Genehmigung. Nun hatten aber die Russen als eine der ersten Maßnahmen die doppelte Sommerzeit eingeführt – die ›einfache‹ hatte ja schon Hitler angeordnet – und die Uhren mußten nochmals um eine Stunde vorgestellt werden. Um zehn Uhr war es noch taghell. Außerdem hatten wir anhaltend schönes Wetter mit extrem hohen Temperaturen, in den Wohnungen war es stickig, erträglich wurde es erst abends, und so verlegte man die Sperrstunde auf 22 Uhr. Zwei Tage später wurde die Anordnung wieder aufgehoben, dann neu erlassen; und zum Schluß wußte kein Mensch mehr, wie lange man nun eigentlich draußen bleiben durfte. Immerhin war dieses Wissen wichtig, denn die Übertretung der Sperrstunde wurde mit Strafe belegt.
Erstes Opfer wurde meine Mutter. Sie hatte bei Frau Brüning gesessen und mit ihr zusammen die einleitenden Maßnahmen zur geplanten Nahrungsmittelbeschaffungsaktion durchgesprochen. Anstatt nun durch den Keller zu gehen oder sich wenigstens an der Hausmauer entlang durch die Hagebuttensträucher zu schlagen, war sie seelenruhig aus der Haustür spaziert und hatte bereits den Vorgarten zur Hälfte umrundet, als sie einem diensteifrigen Besatzer in die Hände fiel und wegen unerlaubten Betretens der Straße verhaftet wurde.
Wir bemerkten ihr Verschwinden erst am nächsten Morgen, aber noch bevor Tante Else sich hilfesuchend an unseren teetrinkenden Gönner wenden konnte, tauchte Mami wieder auf. Sie hatte die Nacht zwar nicht gerade komfortabel, aber weitgehend unbehelligt im Kino verbracht, das vorübergehend als Auffanglager für alle möglichen Straftäter diente.
Außer der Adresse eines Schwarzhändlers, für den es angeblich nichts gab, was er nicht besorgen konnte, brachte Mami noch etwas anderes aus dem provisorischen Gefängnis mit: Läuse! Bisher waren wir von diesem Viehzeug verschont geblieben, und wir merkten auch in den ersten Tagen noch nichts von den eingeschleppten Mitbewohnern. Gelegentliches Kopfjucken schoben wir auf die noch immer unzulänglichen sanitären Verhältnisse, die das Haarewaschen zu einem feierlichen Ritual machten, und auf den Mangel an Shampoo, das wir kaum noch dem Namen nach kannten. Erst als ich Onkel Paul auf einen kleinen Käfer aufmerksam machte, der quer über seinen kahlen Schädel marschierte und zielstrebig den Haarkranz im Nacken ansteuerte, kam uns die Erleuchtung. Onkel Paul war immerhin Weltkrieg-I-Teilnehmer und besaß einschlägige Erfahrungen. Er klassifizierte den Käfer denn auch sofort als Exemplar der Gattung
Anopluren,
gemeinhin Kopflaus genannt und nicht zu verwechseln mit der Filz- oder Kleiderlaus. Er konnte uns auch eine ganze Reihe von Gegenmitteln aufzählen, die aber alle den Nachteil hatten, daß sie nirgendwo zu beschaffen waren.
Mami hatte inzwischen nicht nur die ganze Familie infiziert, sondern auch für gründliche Verbreitung im Nachbarhaus gesorgt. Allerdings wollte niemand zugeben,
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