Stille meine Sehnsucht, Geliebter!
1. KAPITEL
„Sehr geehrte Fluggäste, willkommen auf Sizilien. Bitte bleiben Sie so lange angeschnallt sitzen, bis das Flugzeug seine endgültige Parkposition erreicht hat.“
Laurel starrte weiterhin wie hypnotisiert auf das aufgeschlagene Buch in ihrem Schoß. Alles in ihr sträubte sich dagegen, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Sie verband zu viele schmerzliche Erinnerungen mit diesem Ort – Erinnerungen, die sie in den vergangenen zwei Jahren versucht hatte zu vergessen.
Obwohl das Kleinkind, das hinter Laurel saß, schrie, quengelte und seine Füße mit solcher Wucht gegen die Rückenlehne ihres Sitzes rammte, dass sie leicht nach vorne gestoßen wurde, nahm sie nichts wahr außer das unwohle Gefühl in der Magengrube. Normalerweise entspannte sie die Lektüre eines guten Romans, doch diesmal wollten die Buchstaben vor ihren Augen einfach keinen Sinn ergeben.
„Sie können die Armlehnen jetzt loslassen. Wir sind sicher gelandet.“ Laurels Sitznachbarin berührte verständnisvoll ihre Hand. „Meine Schwester leidet auch unter Flugangst.“
Es dauerte einige Sekunden, bis Laurel die sanfte Stimme zuordnen konnte und langsam den Kopf zur Seite drehte. „Flugangst?“, brachte sie verdattert über die Lippen.
„Es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen“, sagte die Frau aufmunternd. „Meine Schwester hatte einmal während eines Flugs nach Chicago sogar eine richtige Panikattacke, und die Stewardess musste ihr Beruhigungsmittel geben. Ich habe gleich zu meinem Ehemann gesagt: ‚Bill, der jungen Dame hier neben uns geht es gar nicht gut. Sieh nur, sie hat noch kein einziges Mal die Seite ihres Buches umgeblättert.‘ Und Sie haben sich an den Armlehnen festgeklammert, seit das Flugzeug in London abgehoben hat. Aber jetzt können Sie sich entspannen. Wir stehen auf sicherem Boden.“ Die Frau lächelte Laurel mütterlich besorgt an.
Mütterlich?
Laurel wunderte sich, dass sie überhaupt in der Lage war, diesen Wesenszug zu erkennen, schließlich war sie selbst nie in den Genuss mütterlicher Fürsorge gekommen. Zwar konnte sie sich glücklicherweise nicht daran erinnern, wie sie als Neugeborenes von ihrer Mutter in einer Einkaufstasche in einem kalten Park ausgesetzt worden war, aber ihre Kindheit in einem Heim war unauslöschlich in ihrem Gedächtnis eingebrannt.
„Sehen Sie nur, der blaue Himmel und die strahlende Sonne!“, riss die Frau sie aus ihren trüben Gedanken. Sie lehnte sich halb über Laurel, um aus dem Fenster zu schauen. „Ich besuche Sizilien das erste Mal. Und Sie?“
Small Talk. Die Kunst der beiläufigen Konversation, in der Gefühle bewusst außen vor gelassen wurden.
Darin war sie gut. „Nein, ich war schon einmal hier.“ Und weil Laurel sich für die Freundlichkeit ihrer Sitznachbarin erkenntlich zeigen wollte, rang sie sich sogar ein Lächeln ab. „Vor ein paar Jahren auf einer Geschäftsreise.“ Fehler Nummer eins, dachte Laurel, kaum hatte sie die Worte ausgesprochen.
„Und was verschlägt Sie diesmal hierher?“, fragte die Frau auch schon neugierig nach.
„Meine beste Freundin heiratet“, antwortete Laurel wie ferngesteuert.
„Eine echte sizilianische Hochzeit? Wie romantisch. Ich habe noch genau die Hochzeitsszene aus dem Film Der Pate vor Augen – das rauschende Fest mit Hunderten von Freunden und Familienangehörigen. Und die Musik und die Tänze. Einfach fantastisch. Die Italiener wissen, wie man feiert. Und wie man mit Kindern umgeht“, fügte sie hinzu und warf einen missbilligenden Blick auf die Passagierin hinter ihnen, die in aller Seelenruhe las, während ihr Kind weiterhin zappelte und schrie. „Familie steht für sie nämlich an oberster Stelle.“
Laurel konnte es plötzlich kaum erwarten, von der Frau wegzukommen. Sie stopfte das Buch in ihre Handtasche und löste den Gurt. „Vielen Dank für Ihre Sorge um mein Wohlbefinden. Ich hoffe, Ihnen gefällt Sizilien“, sagte sie und machte Anstalten aufzustehen.
„Ich glaube, Sie müssen sich noch ein bisschen gedulden, meine Liebe. Haben Sie die Durchsage nicht gehört? Es ist ein Prominenter an Bord, der es offenbar besonders eilig hat. Wir müssen warten, bis er ausgestiegen ist.“ Die Frau spähte an Laurel vorbei aus dem Fenster. „Oh, schauen Sie sich das an. Drei Autos mit schwarz getönten Scheiben sind gerade vorgefahren. Und die Männer, die jetzt aussteigen, sehen wie Leibwächter aus. Wow … das müssen Sie sehen, meine Liebe. Wie aus einem Film. Sie tragen
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