Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
in ihrer Vergangenheit gemacht. D’Agosta hatte seit langem seine eigenen Zweifel an Constances psychischer Stabilität gehabt, und diese unerklärliche Gleichgültigkeit verstärkte seine Besorgnis nur noch mehr. Das war der eine Grund, weshalb er gestern mit seinen wenigen Habseligkeiten in das Haus am Riverside Drive zurückgekehrt war: Um an Stelle von Pendergast über Constance zu wachen. Der andere Grund war, dass er nicht wusste, wo er sonst hinsollte.
Auch Diogenes war immer noch ein Problem, aber immerhin hatten sie ihn aufgehalten, seine Pläne für Viola und Luzifers Herz durchkreuzt und ihn gezwungen, sich wieder zu verstecken. Die New Yorker Polizei glaubte jetzt an seine Existenz und hatte alle Kräfte mobilisiert, um ihn dingfest zu machen. Die jüngsten Entwicklungen schienen ihre Überzeugung, dass Pendergast ein Serienmörder war, ins Wanken gebracht, aber nicht völlig erschüttert zu haben – das Problem war, dass die am Tatort gefundenen Spuren ihn immer noch schwer belasteten. Aber wenigstens war die New Yorker Polizei sich jetzt sicher, dass Diogenes hinter dem Juwelenraub im Museum steckte und Viola entführt hatte. Sie hatten das Haus gefunden, in dem er sie gefangen gehalten hatte, und nahmen es im Moment gerade auseinander. Der Fall war noch lange nicht abgeschlossen.
In gewisser Weise war Diogenes durch seinen Misserfolg und die Flucht noch gefährlicher geworden als vorher. D’Agosta erinnerte sich an das Interesse, das Diogenes während des Telefongesprächs in dem Jaguar-Oldtimer an Constance bekundet hatte, und schauderte. Diogenes plante seine nächsten Schritte immer mit größter Akribie. Seine Reaktion – und D’Agosta zweifelte nicht, dass es eine geben würde – dürfte noch eine Weile auf sich warten lassen. Ihm blieb also noch etwas Zeit, um sich darauf vorzubereiten.
Constance sah von ihrem Buch auf. »Wussten Sie, Lieutenant, dass Blutegel noch bis ins frühe 19. Jahrhundert eine beliebte und oft bevorzugte Alternative bei einem Aderlass waren?«
D’Agosta sah zu ihr hinüber. »Nicht direkt.«
»Die Kolonialärzte haben häufig den europäischen Blutegel Hirudinea annelida importiert, weil er viel mehr Blut aufnehmen konnte als Macrobetta decora.«
»Macrobetta decora?«
»Der amerikanische Blutegel, Lieutenant.« Constance wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Nenn mich Vincent, dachte D’Agosta, während er sie nachdenklich musterte. Er war sich sowieso nicht sicher, ob er noch lange Lieutenant sein würde.
Seine Gedanken wanderten zum gestrigen Nachmittag und der demütigenden Anhörung vorm Disziplinarausschuss. Einerseits war es eine große Erleichterung gewesen: Singleton hatte Wort gehalten, und die ganze unglückselige Geschichte war als fehlgeschlagene Undercover-Operation verbucht worden, bei der D’Agosta ein schlechtes Urteilsvermögen gezeigt und grobe Fehler gemacht hatte – ein Ausschussmitglied hatte ihn als den »wohl dümmsten Cop der gesamten Polizei« bezeichnet –, aber am Ende waren sie zu dem Ergebnis gekommen, dass er nicht vorsätzlich irgendein schweres Verbrechen begangen hatte. Die Liste der leichteren Vergehen war übel genug.
Dumm sei besser als kriminell, hatte Singleton ihm hinterher gesagt. Es würde weitere Anhörungen geben, doch ob er weiterhin bei der New Yorker Polizei – oder überhaupt im Polizeidienst – bleiben würde, erschien äußerst zweifelhaft.
Hayward war natürlich als Zeugin aufgetreten. Sie hatte ihre Aussage in völlig neutralem Ton vorgetragen, den üblichen Polizeijargon verwendet und nicht ein einziges Mal in seine Richtung geschaut. Aber auf gewisse Weise hatte ihre Aussage erfolgreich dazu beigetragen, einige der schwersten Vorwürfe gegen ihn zu entkräften.
Er zog erneut die Akte von Diogenes auf seinen Schoß und musste kurz gegen ein Gefühl der Sinnlosigkeit ankämpfen. Vor zehn Tagen hatte er hier im selben Raum gesessen, sich dieselbe Akte angeschaut, ebenfalls ohne Pendergasts Anleitung. Nur dass inzwischen vier Menschen ermordet worden waren, und Pendergast, anstatt tot zu sein, in Bellevue saß und sich einer Art psychiatrischer Begutachtung unterziehen musste. Beim letzten Mal hatte D’Agosta nichts Hilfreiches entdecken können – was sollte sich daran geändert haben?
Aber er durfte jetzt nicht aufgeben. Man hatte ihm alles genommen: seinen Beruf, seine Beziehung zu Hayward, seinen besten Freund –, alles. Ihm blieb nur eine Möglichkeit: Er musste Pendergasts Unschuld beweisen.
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