Pension der Sehnsucht
Kopf und marschierte auf das Spielfeld.
»Spielst du auch mit, Nelly?« Eine Gruppe Halbwüchsiger umringte sie. Nelly ließ sich ein Schlagholz geben und prüfte, wie es in der Hand lag.
»Aber nicht länger als eine Minute. Ich muss nämlich zurück.«
Junior kam langsam näher, die Hände lässig in die Hüften gestemmt, und sah Nelly herausfordernd an. »Wollen wir wetten, dass du nicht mal bis zur nächsten Ecke kommst?«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich will dich nicht um dein Taschengeld berauben.«
Mit der Unbefangenheit eines Fünfzehnjährigen zog Junior kräftig an Nellys Zopf. »Wenn ich den Ball fange, ehe du an der ersten Ecke bist, musst du mir einen Kuss geben.«
»Geh an deinen Platz, du Möchtegern-Casanova, und werde erst einmal zehn Jahre älter.«
Geringschätzig lächelnd schlenderte Junior über das Spielfeld und nahm seine Stellung ein. Nelly zog sich die geborgte Mütze tiefer in die Stirn. »Seht euch diesen Ball noch mal gut an, Jungs«, prahlte sie, »denn der fliegt jetzt gleich bis nach New York.«
Mit lautem Knall traf das Schlagholz den harten Lederball. Nelly beobachtete kurz, welche Flugbahn der Ball nahm, dann spurtete sie los. Während sie mit angewinkelten Armen und gesenktem Kopf den Spielfeldrand entlangflitzte, hörte sie das Gejohle und die anfeuernden Rufe der Jungen. In gebückter Haltung, mit ausgebreiteten Armen, hielt sich Junior bereit, den Ball aufzufangen, als Nelly sich bäuchlings über die Markierungslinie warf. Eine Staubwolke wirbelte auf, und die Jungen schrien aufgeregt.
»Schade, du hast es nicht geschafft.«
»Was?« Nelly sprang hoch und baute sich vor Wilbur Hayes auf, der den Schiedsrichter spielte. Sie stand so dicht vor ihm, dass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten. Wütend funkelte sie ihn an. »Du spinnst wohl! Ich war schon an der Ecke, als der Ball noch stundenlang durch die Luft segelte. Vielleicht solltest du dir eine Brille kaufen.«
»Du hast es nicht geschafft«, wiederholte Wilbur würdevoll und verschränkte die Arme vor der schmächtigen Brust.
»Wir brauchen einen Schiedsrichter, der nicht auf beiden Augen blind ist.« Empört wandte sie sich an die Zuschauer. »Wer von euch ist unparteiisch?«
»Du hast es nicht geschafft.«
Nelly wirbelte herum, als sie die fremde Stimme hörte. Stirnrunzelnd betrachtete sie den Mann, der lässig am Rand des Spielfelds stand. Er lächelte spöttisch, strich sich die schwarzen Locken aus der Stirn und kam auf sie zu.
»Du hättest den Ball höher schlagen müssen.«
»Ich habe die Ecke erreicht«, widersprach Nelly hartnäckig und rieb sich die schmutzige Nase.
»Nein«, erwiderte Wilbur seelenruhig.
Nelly bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, ehe sie sich wieder dem Fremden zuwandte, der die hitzige Meinungsverschiedenheit amüsiert verfolgte. Sie betrachtete ihn mit einer Mischung aus Groll und Neugier.
Er war groß gewachsen und schlank, und das dunkle Haar schimmerte leicht im Sonnenlicht. Der beigefarbene Anzug wirkte leger, doch Nelly erkannte, dass er erstklassig geschnitten und mit Sicherheit sehr teuer war. Das Lächeln des Mannes vertiefte sich, als er merkte, wie kritisch Nelly ihn musterte. Ihre Abneigung gegen ihn wuchs.
»Ich muss jetzt zurück«, verkündete sie und klopfte sich den Staub von den Jeans. »Und Wilbur, mach dich darauf gefasst, dass ich deiner Mutter sage, sie soll mal mit dir zum Augenarzt gehen.«
»He, warte mal.«
Nelly, die sich bereits auf ihr Fahrrad geschwungen hatte, stieg noch einmal ab. Der Fremde kam auf sie zu.
»Wie weit ist es noch bis zum ›Lakeside Inn‹?«
Offenbar hielt er sie für eine Spielgefährtin der Jungen. Nelly packte der Übermut. »Meine Mami hat mir verboten, mit fremden Männern zu sprechen«, antwortete sie mit kindlicher Stimme.
»Das ist auch richtig so. Aber ich will ja nur wissen, wie weit es bis zu dem Hotel ist. Ich schenke dir keine Bonbons, um dich in mein Auto zu locken.«
»Tja.« Sie zog die Stirn kraus und tat so, als dächte sie angestrengt nach. »Fahren Sie einfach der Straße nach. Es sind noch ungefähr fünf Kilometer.«
Er sah sie nachdenklich an. »Vielen Dank, mein Kind. Du hast mir sehr geholfen.«
»Keine Ursache.« Sie schaute ihm nach, als er zu einem metallblauen Mercedes zurückging, und konnte sich nicht verbeißen, ihm hinterherzurufen: »Und ich habe es doch geschafft. Sie brauchen auch eine Brille.« Dann gab sie dem kleinen Knirps die Mütze wieder, die sie
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