Pension der Sehnsucht
1. K APITEL
Der Frühling in Neuengland hielt immer erst spät Einzug. An vor der Sonne geschützten Stellen blieb der Schnee lange liegen, und das erste junge Grün an den kahlen Ästen der Bäume und Büsche zeigte sich nur zaghaft. Doch schon lag eine erwartungsvolle Stimmung über dem Land, und die Luft roch frisch und würzig.
Schwungvoll öffnete Nelly ihr Schlafzimmerfenster und sog die kühle Luft tief ein. Heute ist Samstag, dachte sie zufrieden und flocht ihr langes weizenblondes Haar zu Zöpfen. Das Hotel »Lakeside Inn« war nur zur Hälfte belegt. Erst in drei Wochen begann die eigentliche Saison.
Wenn alles nach Plan verlief, würden Nellys Pflichten als Hotelmanagerin sie an diesem Wochenende nicht sehr in Anspruch nehmen. Das Personal war Nelly treu ergeben, wenn auch vom Temperament her etwas schwierig. Im »Lakeside Inn« ging es zu wie in einer großen Familie. Man stritt, ärgerte und neckte sich, aber wenn es darauf ankam, hielt man zusammen wie Pech und Schwefel und ließ sich auch von Schwierigkeiten nicht unterkriegen. Und ich, dachte Nelly, bin das Oberhaupt dieser Familie.
Nelly zog sich uralte verwaschene Jeans an und kam gar nicht auf den Gedanken, wie wenig ihr Äußeres zu ihrer Stellung passte. Aus dem Spiegel blickte ihr eine zierliche, kindlich aussehende Frau entgegen. Die saloppe Kleidung verbarg ihre weiblichen Kurven. Die Zöpfe und die Stupsnase wirkten frech, der fein gezeichnete Mund verriet viel Sinn für Humor, und die großen grauen Augen funkelten schelmisch.
Nachdem Nelly in ausgetretene Tennisschuhe geschlüpft war, verließ sie ihr Zimmer. Vor ihrem Spaziergang wollte sie sich noch davon überzeugen, ob mit den Frühstücksvorbereitungen auch alles klappte. Als sie die große Diele durchquerte, hörte sie aus dem Speisesaal das Klappern von Besteck und einen hitzigen Wortwechsel. Sie stöhnte auf. Die beiden Kellnerinnen lagen sich also schon wieder in den Haaren.
»Wenn Männer mit Schweinsäuglein dein Typ sind, kann ich mir vorstellen, dass du sehr glücklich bist.« Liz zuckte abfällig die Schultern.
»Walt hat keine Schweinsaugen«, widersprach Maggie. »Du bist ja bloß neidisch.«
»Neidisch? Ha, dass ich nicht lache! Bildest du dir ernsthaft ein, ich sei neidisch auf einen Mann, der … ach, guten Morgen, Nelly.«
»Guten Morgen, ihr zwei. Liz, bei diesem Gedeck hast du zwei Löffel und ein Messer hingelegt. Ich glaube, statt des einen Löffels wäre eine Gabel angebrachter.«
Maggie lächelte hämisch, als Liz das Besteck auswechselte. »Heute Abend fährt Walt mit mir ins Autokino«, verkündete sie.
Nelly hörte Liz’ Antwort nicht mehr, denn sie befand sich schon auf dem Weg in die Küche.
Dies war der einzige Platz in dem altmodisch eingerichteten Hotel, der daran erinnerte, dass man im zwanzigsten Jahrhundert lebte. Überall blitzte polierter Edelstahl. Regale und Schränke aus Kunststoff standen an den Wänden, und im Linoleumfußboden konnte man sich spiegeln. Es duftete nach frischem Kaffee.
»Morgen, Elsie.« Die rundliche Frau, die sich an der Arbeitsplatte zu schaffen machte, ließ ein undeutliches Gemurmel verlauten. »Wenn nichts Besonderes anliegt, mache ich jetzt erst einmal einen Spaziergang.«
»Betty Jackson will uns kein Brombeergelee mehr verkaufen.«
»Was? Du liebe Zeit, warum denn nicht?« Verärgert nahm sich Nelly ein frisch gebackenes Brötchen aus dem Korb und biss hinein. »Mr. Conners fragt immer extra nach ihrem Gelee, und wir haben das letzte Glas angebrochen.«
»Sie hat gesagt, wenn du keine Zeit hast, eine einsame alte Frau zu besuchen, dann hätte sie keine Lust, uns noch weiterhin damit zu versorgen.«
»Einsame alte Frau?« brachte Nelly trotz ihres vollen Mundes heraus. »In ihrem Haus treffen sich mehr Leute zum Tratschen als im ganzen Ort zusammen. Verflixt noch mal, Elsie, wir brauchen das Gelee. Aber letzte Woche hatte ich so viel zu tun, dass ich wirklich keine Zeit aufbringen konnte, mir stundenlang den neusten Klatsch anzuhören.«
»Machst du dir Sorgen, weil am Montag der neue Besitzer kommt?«
»Unsinn.« Mit finsterer Miene vertilgte Nelly ein zweites Brötchen. »Aber als Managerin des Hotels will ich natürlich, dass alles in bester Ordnung ist.«
»Eddie hat mir erzählt, du hättest vor Wut mit den Türen geknallt, als du hörtest, dass er herkommt.«
»Habe ich nicht.« Nelly schenkte sich ein Glas Orangensaft ein. »Es ist Mr. Reynolds gutes Recht, sich seinen neuen Besitz anzusehen.
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