Perfekt
vierte Tür links«, fügte sie hinzu.
»Also wirklich«, Julie war frustriert, »warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt!«
Dr. Wilmers Sprechstundenhilfe blickte auf, als das Mädchen das Zimmer betrat. »Hast du dich verlaufen, Julie?«
»Ich mich verlaufen? Aber nein!« log sie und schüttelte energisch den Lockenkopf, während sie zu ihrem Stuhl zurückging. Ohne zu wissen, daß sie durch einen Einwegspiegel beobachtet wurde, wandte Julie ihre Aufmerksamkeit jetzt dem Aquarium zu. Als erstes bemerkte sie, daß einer der wunderschönen Fische tot auf dem Beckenboden lag und daß zwei andere so um ihn herumschwammen, als wollten sie ihn fressen. Das Mädchen klopfte mit dem Finger gegen das Glas, um sie fortzujagen, doch die Fische kamen gleich darauf zurück. »Da ist ein toter Fisch drin«, erklärte es der Sprechstundenhilfe und bemühte sich, möglichst gleichgültig zu klingen. »Ich könnte ihn für Sie rausholen.«
»Die Putzfrauen werden ihn heute abend entfernen. Danke.«
Julie schluckte einen zornigen Protest hinunter; warum sollte der tote Fisch so unwürdig enden? Es war nicht recht, daß etwas derartig Schönes und Hilfloses einfach so liegenblieb. Sie nahm eine Zeitschrift vom Beistelltisch und blätterte sie durch. Gleichzeitig beobachtete das Mädchen aber unablässig die beiden räuberischen Fische. Und jedesmal, wenn sie sich wieder ihrem toten Kameraden näherten, kontrollierte Julie mit einem verstohlenen Blick, ob die Sprechstundenhilfe auch nicht hersah; dann klopfte sie an die Glasscheibe, um die Tiere zu verjagen.
Wenige Meter entfernt, auf der anderen Seite des falschen Spiegels, verfolgte Dr. Theresa Wilmer dieses Schauspiel mit großem Interesse. Als sie Julies liebevolle Versuche beobachtete, den toten Fisch zu beschützen und gleichzeitig der Sprechstundenhilfe gegenüber die Gleichgültige zu spielen, lächelte sie. Die Ärztin erklärte dem neben ihr stehenden Mann, der ebenfalls Psychiater war und seit kurzem an ihrem Sonderprojekt mitarbeitete: »Das ist sie, >die schlimme Julie<, der Schrecken des Waisenhauses. Ein Teil des dortigen Pflegepersonals behauptet, sie sei nicht nur >lernbehindert<, sondern auch widerspenstig, eine schlechte Gesellschaft für ihre Kameraden und darüber hinaus >eine Unruhestifterin mit kriminellen Tendenzen<. Wußten Sie«, fuhr sie fort, und in ihrer Stimme schwang amüsierte Bewunderung mit, »daß sie in LaSalle einen regelrechten Hungerstreik organisiert hat? Sie hat fünfundvierzig Kinder, die meisten älter als sie selbst, zum Mitmachen überredet, um besseres Essen zu fordern.«
Dr. John Frazier blickte durch den Einwegspiegel das kleine Mädchen an. »Ich nehme an, sie hat das getan, weil sie ein zwingendes Bedürfnis hat, sich gegen jegliche Form von Autorität aufzulehnen?«
»Nein«, antwortete Dr. Wilmer trocken. »Sie hat es getan, weil sie ein zwingendes Bedürfnis nach besserem Essen hatte. Das Essen im LaSalle ist nahrhaft, aber es schmeckt nach nichts. Ich habe es selber probiert.«
Frazier sah seine Kollegin überrascht an. »Und was ist mit den Diebstählen? Die werden Sie doch nicht genauso leicht abtun.«
Terry lehnte an der Wand, deutete mit dem Kopf auf das Kind im Wartezimmer und sagte lächelnd: »Ist Ihnen Robin Hood ein Begriff?«
»Natürlich. Warum?«
»Weil Sie hier eine moderne kindliche Version von Robin Hood vor sich haben. Julie könnte Ihnen die Goldfüllung aus den Zähnen stehlen, ohne daß Sie es merken, so geschickt ist sie.«
»Mag sein, aber ich glaube kaum, daß das die richtige Empfehlung für ein Kind ist, das Sie zu Verwandten nach Texas geben wollen. Das haben Sie doch wohl vor.«
Die Ärztin zuckte die Achseln. »Julie stiehlt Lebensmittel, Kleidung und Spielsachen, aber sie behält nichts davon für sich. Sie verteilt ihre Beute immer unter den kleineren Kindern im LaSalle.«
»Sind Sie da sicher?«
»Völlig sicher. Ich habe es selbst überprüft.«
Mit einem Lächeln auf den Lippen betrachtete John Frazier das kleine Mädchen. »Sie sieht eher wie Peter Pan als wie Robin Hood aus. Julie ist so völlig anders, als ich sie mir nach der Lektüre ihrer Unterlagen vorgestellt hatte.«
»Auch ich war überrascht von ihr«, gab Dr. Wilmer zu. In Julies Unterlagen stand, daß die Leiterin des LaSalle-Waisenhaus das Mädchen als ein »disziplinäres Problem mit einer Vorliebe fürs Schuleschwänzen, Unruhestiften, Stehlen und Herumhängen mit älteren Jungen zweifelhaften Charakters«
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