Pesch, Helmut W.
Glaubt mir, davon versteh’ ich was.«
Festen Schrittes ging er auf die drei Spinnerinnen zu, Siggi und Gunhild mit sich ziehend. Und als sie die Stelle erreicht hatten, verzerrte sich das Bild wie der Spiegel einer Wasserfläche, wenn ein Wind darüberweht, und war verschwunden.
»Es riecht nach Wald«, sagte Gunhild.
Sie traten aus der Kammer hinaus und standen in der tunnelarti-gen Röhre, durch die sie hergekommen, und kaum hatten sie die Kammer verlassen, roch Siggi auch schon die würzige Waldluft.
Alle drei standen nebeneinander und atmeten tief ein und aus.
Sie hatten es geschafft. Midgard – die Erde – hatte sie wieder.
Siggi wandte sich kurz um. Wo sie vor Augenblicken noch durch-geschlüpft waren, befand sich nur noch der massive graue Fels. Da war keine Pforte mehr, die in die Anderswelt führte. Das Tor war ein für alle Male verschlossen.
»Seht«, sagte Siggi und deutete auf den Fels, und alle drei sahen die glatte Wand grauen Gesteins, hinter dem die Anderswelt begann.
Sie gingen ins Freie. Frische, kühle vom Gewitter des gestrigen Abends gereinigte Luft empfing sie. Vor ihnen der Wald und am Himmel die Ahnung, dass hinter den Bäumen die Sonne gerade über dem Horizont erschienen war. Die Vögel zwitscherten ihr Morgenlied, und selten hatte Siggi dies so genossen wie in diesem Augenblick. Er glaubte, den Gesang der gefiederten Freunde hundert Jahre nicht mehr gehört zu haben.
»Wir sollten uns beeilen«, sagte Gunhild. »Die suchen bestimmt schon nach uns.«
»Das gibt Ärger«, meinte Hagen düster.
»Nicht solange Mjölnir mit mir ist«, sagte Siggi großspurig, aber als sein Griff zum Gürtel ging, war da kein Hammer mehr. Eisiger Schrecken durchfuhr ihn.
»Was ist?«, fragte Hagen. »Wo ist dein Hammer?«
Siggi sah an sich herunter. Statt des Hammers hing eine Kette aus seinem Gürtel heraus. Der Junge zog daran, und ein bronzenes Amulett kam zum Vorschein, in der Form eines Hammers, nicht größer als seine Handfläche.
Gunhild griff sich an den Hals, aber auch Brisingamen hatte sich verwandelt. An einer silbernen Kette um ihren Hals hing ein einzelner, klarer Bergkristall, in dem das Licht sich brach und der wie eine Träne geformt war.
»Eine Träne für die Anderswelt«, sagte sie.
»Es scheint, manches erscheint in dieser Welt anders«, meinte Hagen. »Ist euch schon aufgefallen, dass wir unsere wunderschönen Kostüme irgendwo verloren haben?« Sie trugen wieder ihre alte Kleidung, mit der sie in die Anderswelt eingetreten waren; weder von Siggis und Gunhilds Rüstung, noch von Hagens schwarzer Albengewandung war etwas zu sehen.
»Gott sei Dank«, sagte Siggi. »Das wäre auch etwas schwierig zu erklären gewesen.«
Hagen überlegte nur einen Moment.
»Ich bin ein Fantasy-Rollenspieler und habe dieses Outfit mitgebracht, um euch in die Kunst des Live-Rollenspiels einzuweihen.
Unsere Sachen hat die Jugendgang geklaut, die unsere Räder demoliert hat … Na, wäre doch ‘ne Erklärung gewesen.«
»Gute Geschichte«, sagte Siggi und grinste unverschämt.
»Ist ja auch von mir«, grinste Hagen. »Na ja, Hauptsache wir haben überhaupt was anzuziehen.«
Er warf einen schrägen Blick zu Gunhild, aber sie tat ihm nicht den Gefallen zu erröten. Sie war noch immer in die Betrachtung ihres Kristalls versunken. Auch Siggi hängte sich das Amulett um den Hals.
Hagen stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, dass er gar nicht neidisch war, dass die beiden ein so schönes Andenken von ihrem Abenteuer mitbekommen hatten. Auch er hatte etwas davongetragen – manche Erinnerungen, die er lieber vergessen hätte, aber auch neue Freunde und eine neue Freiheit.
»Kommt, nun müssen wir aber gehen«, unterbrach Gunhild das Schweigen, das zwischen ihnen eingetreten war.
Sie gingen in den Wald hinein, ohne genau zu wissen, wo sie waren, aber irgendwann würden sie auf einen Wegweiser treffen und dann zum Waldgasthof gelangen.
Sie hatten sich gerade ein paar hundert Meter in den Wald hin-einbewegt, da hörten sie Hundegebell und Rufen. Aus einiger Entfernung näherte sich mit knatternden Rotoren ein Hubschrauber.
»Was ist da los?«, wollte Hagen wissen.
»Ich glaube, die Eltern haben die Polizei eingeschaltet«, sagte Gunhild.
»Um Gottes willen! Was sagen wir ihnen denn?«, entfuhr es Siggi.
»Die Wahrheit«, meinte Gunhild, »können wir ihnen nicht sagen.«
»Wir haben uns in den Wald geflüchtet, weil eine Bande unsere Fahrräder zerschlagen hat und uns verprügeln
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