Pesch, Helmut W.
die Söhne Bors, wurden auf das Äußerste gereizt.
Die drei Brüder stritten mit dem alten Riesen Ymir und erschlugen ihn in einem heftigen Kampf. Als er, in Stücke gehauen, nieder-fiel, floss so viel Blut aus seinem Körper, dass das gesamte Volk der Reifriesen ertrank, bis auf den jüngsten von ihnen, Bergbrüller, und dessen Frau. So konnte das Geschlecht der Riesen weiterbestehen.
Das Blut Ymirs strömte in die gähnende Schlucht und füllte sie aus, sodass sie ein riesiges Meer bildete. Alle Ozeane der Welt haben ihren Quell in diesem Urmeer. Die Söhne Bors schleiften den Leichnam des Riesen in das Meer und zerhackten und zerschnitten ihn, zerrten ihn hierhin und dorthin. In dieser grausigen Arbeit wurde das Fundament der Erde gelegt: Hügel, Ebenen, trockene Flussbetten und leere Seen. In diese Hohlräume ließen sie Ymirs Blut fließen, sodass die Erde vom Meer umgeben war und die Flüs-se hineinströmten. Sie zerhackten seine Knochen und schufen daraus die Berge. Seine Haare nahmen sie für die Bäume und Büsche.
Und seine Hirnschale wuchteten sie empor, damit sie über der Erde eine Kuppel bildete.
Als nun Finsternis über der Erde lag, da krochen aus Ymirs Fleisch, Maden gleich, Wesen empor. Dies waren die Swart-alfar, die Schwarzalben, die man auch Zwerge nennt. Sie hassten das Licht und hassen es bis zum heutigen Tag. Und als Hoch, Ebenhoch und Dritt sie sahen, da geboten sie den ersten, derer sie habhaft wurden, sich an den vier Enden der Erde aufzustellen. Ihre Namen waren Austri, Sudri, Nordri und Westri, und ihnen wurde das gewaltige Gewicht des Himmelsgewölbes auf die Schultern gelegt. In den Raum unter dem Himmel warfen die Götter Ymirs Gehirn und machten daraus die Wolken.
Befreit von der Aufgabe, die Himmelskuppel halten zu müssen, fingen Bors Söhne die umherfliegenden Funken ein, die von Muspelheim hochgeworfen wurden und brachten sie in der gähnenden Schlucht an, damit sie die Erde beleuchteten. Einige wurden am Himmel befestigt, andere wieder sollten nach einem festen Plan ihren Lauf nehmen. So entstanden die Sterne.
Dem Geschlecht der Riesen schenkten die Götter ein Stück Land an den äußersten Ufern des Ozeans, damit sie sich dort niederlas-sen konnten. Schließlich nahmen die jungen Götter Ymirs Wimpern und bauten damit eine runde Festung mit felsenähnlichen Mauern rund um die Erde. Diese Festung nannten sie Midgard oder Mittlere Einfriedung.«
Siggi versuchte, sich Wimpern so groß wie Felsen vorzustellen, die einen ganzen Kontinent umspannten, aber alles, was er vor Augen hatte, war ein verschwommenes Bild von riesigen Dimensio-nen. Doch der Erzähler sprach bereits weiter:
»Eines Morgens nun gingen Hoch, Ebenhoch und Dritt am Ge-stade des Meeres entlang, als sie zwei Treibholzstämme fanden, die an der Grenzen zwischen Land und festem Meer trieben. Und der Schatten von Ebenhoch fiel auf den einen Stamm und der Schatten Dritts auf den anderen. Hoch sah, wie sich die Schatten ihrer Arme und Beine bewegten. Da ließ er sich vor dem Baumstamm, der dem Ufer am nächsten war, auf die Knie fallen, legte seine Lippen an die Rinde und hauchte ihm seinen göttlichen Atem ein. Alsdann bildete sich aus diesem Stamm, einer Ulme, die Gestalt einer Frau heraus, doch sie war noch leblos, und ihre Augen blickten leer.
Hoch beugte sich über den anderen Stamm, der von einer Esche stammte. Wieder hauchte er darauf, und es entstand die Gestalt eines Mannes. Auch er öffnete die Augen und lag regungslos da.
Da wussten die beiden anderen Brüder, dass das Werk ohne ihre Gaben noch nicht vollendet war. Ebenhoch blickte auf die Frau, und er gab ihr die Jugend, die fünf Sinne und den Verstand. Langsam setzte sie sich auf und begann, die herrliche Welt zu bewun-dern. Dann wandte sie sich um, und ihr Blick fiel auf den Mann.
Nun wandte Ebenhoch sich dem Mann zu und verlieh ihm seine Kraft, und auch dieser erhielt die Fähigkeit, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen und zu schmecken.
Dritts Geschenk aber war die Gabe zu reden.
Und die Menschen gingen hinaus, die Welt in Besitz zu nehmen, und die Götter blickten auf ihr Werk und sahen, dass es wohl getan war.
Die Schwarzalben aber, die in den Tiefen von Ymirs Leib in dunklen Höhlen lebten, fühlten nichts als Neid auf die neuen Herren der Welt, und ihr Hass auf die Wesen des Lichts, die solches vollbracht hatten, wurde übermächtig und ist nicht geschwunden bis auf den heutigen Tag.«
Der Alte beendete seine Erzählung. Seine
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