Pesch, Helmut W.
Stimme hatte alle in seinen Bann gezogen; selbst Hagen hatte zum Schluss andächtig ge-lauscht, und ob er nun etwas von seiner Skepsis verloren hatte oder nicht, so enthielt er sich jedenfalls eines weiteren Kommentars.
»Wir müssen gehen«, sagte der Graue. »Es wird Zeit, sonst finden die Swart-alfar unsere Spur.«
Der Alte packte seinen Stock; die beiden Raben flogen auf und nahmen auf seinen Schultern Platz. Er wandte sich um. »Folgt mir«, sagte er knapp und setzte sich in Bewegung, auf den rechten Gang zu.
Die Kinder folgten ihm; es blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig. Der Alte hatte sie in dieses Höhlensystem gebracht, und sie waren ihm nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Hagen langte in seine rechte Hosentasche, um sein Taschentuch herauszuholen. Dabei passierte es. Klirrend kullerte der goldene Ring direkt vor Siggis Füße. Gedankenschnell und noch bevor Hagen irgendetwas unternehmen konnte, bückte sich Siggi, hob ihn auf, und ließ in seiner Tasche verschwinden.
»Was war das?«, sagte der Graue, der sich umdrehte.
»Nur eine Münze«, log Siggi, und er wunderte sich, wie glatt ihm diese Lüge über die Lippen kam. »Sie ist mir aus der Tasche gefallen!« Siggi zeigte einen Groschen vor, den er zufällig in der Tasche gehabt hatte.
Hagen stand wie erstarrt und wusste nicht, ob er verärgert oder erfreut sein sollte. Immerhin hatte Siggi das Geheimnis des Rings gewahrt.
Gunhild war völlig fassungslos. Ihr Bruder war der schlechteste Lügner unter der Sonne, und nun hatte er diesen alten Mann belo-gen, ohne mit der Wimper zu zucken; diesen Mann, der mit seinem Auge auf den Grund der Seele blicken konnte.
»Dann kommt«, sagte der Graue. »Lasst uns nun wirklich gehen!«
Der Alte ging los. Die Kinder folgten ihm im Gänsemarsch: Vorneweg Siggi, dahinter Hagen, und Gunhild bildete den Schluss.
Kaum waren sie einige Meter in dem Gang vorangekommen, schob sich Hagen neben Siggi.
»Okay, Siggi. Und nun gib ihn wieder her!«, zischte er in Siggis Ohr.
Der war noch ganz stolz auf seine Tat und hatte mehr Freundlichkeit und ein kleines bisschen Dankbarkeit von Hagen erwartet, und er beschloss spontan, auf stur zu schalten und das Ding erst einmal zu behalten. Hagen könnte ja wenigstens mal Bitte sagen.
»Nein! Nicht jetzt«, widersprach er flüsternd. »Du kriegst ihn spä-
ter wieder …«
»Was tuschelt ihr denn da?«, fragte der Alte. »Kann das nicht warten?«
»Nur eine kleine Kabbelei unter Jungs«, sagte Gunhild schnell und drängte sich zwischen Hagen und Siggi.
»Das ist nicht die Zeit und der Ort für Streit«, mahnte der Alte.
»Wir müssen weiter. Der Weg ist noch weit, und ich bin, wie ihr sicherlich bemerkt habt, nicht mehr der Jüngste.« Die Stimme des Alten klang wieder amüsiert.
Hagen warf Siggi einen finsteren Blick zu.
»Es ist mein«, zischte er böse. »Ich will ihn wiederhaben. Du willst ihn bloß behalten.«
Siggi würdigte ihn keiner Antwort und ging stur weiter. Er würde, weil Hagen es so gewünscht hatte, den Ring weiter geheim halten.
Das war er ihm schuldig. Aber so gierig, eifersüchtig und neidisch brauchte dieser Typ nun wirklich nicht zu sein. Siggi blickte nach vorn und ignorierte den wütenden Hagen.
Gunhild legte den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete Hagen zu schweigen. Auch Hagen musste einsehen, das der Graue misstrauisch werden würde, wenn sie weiter hinter seinem Rücken tuschelten, und denken, die Kinder hätten etwas vor ihm zu verbergen. Und Hagen war es schließlich, der den Ring unter Verschluss halten wollte.
Also sagte er nichts mehr, doch das hinderte ihn nicht daran, Siggi finstere Blicke zuzuwerfen. Aber der ignorierte ihn einfach.
Gunhild verstand nicht, was Siggi damit bezweckte, aber für sie war es klar, sich vor ihren Bruder zu stellen. Nur, darüber reden würden sie noch. Die Gelegenheit würde kommen.
Die Geschwister wechselten einen Seitenblick, den auch Hagen bemerkte. Seine Miene wurde noch finsterer. Das sollten Freunde sein? Das ließ jemand wie er nicht mit sich machen! Siggi und Gunhild, die er für seine Freunde gehalten hatte, wollten ihn hin-tergehen. Aber er war auf der Hut und würde im richtigen Moment zuschlagen und sich zurückholen, was ihm gehörte. Das schwor er sich.
Der Gang, dem sie folgten, wurde mal enger, dann verbreiterte er sich wieder zu einer Kammer oder sogar zu einem saalgroßen Raum. Immer wieder kamen sie an Abzweigungen, Kreuzungen und Gabelungen vorbei. Das fahle Licht
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