Pestsiegel: Historischer Kriminalroman (German Edition)
konnte, riss ich mich von ihm los und rannte ins Zimmer. Einige Bücher lagen verstreut auf dem Fußboden, doch sonst war alles in Ordnung. Dann sah ich im Schlafzimmer nach. Ausgestreckt auf dem Bett, einen Arm an der Seite herunterhängend, lag John Ingram. Eaton stieß mich beiseite und hielt sein Ohr an Ingrams Mund.
»Immerhin haben sie ihn am Leben gelassen«, sagte er. Er zog die Bettdecke fort. Ich wandte mich ab. Wenn das der Preis war, um den Anhänger zu bekommen, wollte ich ihn nicht haben.
»Kommt her! Hebt ihn hoch! Wenn Ihr noch nichts Schlimmeres als das gesehen habt, könnt Ihr Euch glücklich schätzen!«
Ingram war mit dem groben Leinenhemd bekleidet, das er gewöhnlich trug. Darunter war er nackt. An den Fußsohlen, den Knöcheln und den Innenseiten seiner Beine hatte er Brandmale. Er hatte sich nass gemacht, und der intensive bittere Geruch vermengte sich mit dem Gestank verbrannten Fleisches, der an ihm haftete. Eaton wirkte ungerührt angesichts dieses Gräuels. Doch sein verzweifeltes Verlangen, Auskünfte von Mr Ingram zu erhalten, half dem armen Mann mehr als mein Mitleid. Wir zogen das Bett ab und drehten die Matratze um. Dabei stieß ich mit dem Fuß gegen ein Schüreisen. Jemand hatte es fallengelassen, als es noch heiß war, denn der Boden, von dem ich es aufhob, war verkohlt. Während ich nach frischem Bettzeug suchte, knirschten meine Stiefel auf erkalteten Kohlen und Asche. Bei diesem Geräusch schlug Mr Ingram die Augen auf. Voller Entsetzen blickte er uns an, und Eaton zerrte mich in sein Blickfeld. »Redet mit ihm! Er will keinen hässlichen Rohling wie mich sehen.«
Ich versuchte es, aber er schien mich nicht wiederzuerkennen, drehte sich weg, stammelte, er habe uns alles gesagt, was er wisse, bis ihm die Augen zufielen und er erneut das Bewusstsein verlor. Vielleicht sah ich in meinem Lederwams den Männern zu ähnlich, die ihn gefoltert hatten. Ich ging in die Küche, um etwas zu finden, das ich ihm geben könnte. Es war eine große Küche mit einem Backofen, da sie allen Häusern in der Reihe zur Verfügung stand. Ich öffnete einen Schrank. Der kräftige Geruch von Gewürzen stieg mir in die Nase, doch bis auf ein gelbes Pulver fand ich nur wenig. Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, welche Kräuter Matthew bei solchen furchtbaren Verbrennungen benutzt hatte. Ich öffnete die Speisekammer und schreckte zurück, als ich eine geisterhafte Gestalt erblickte. Als ich mein Messer zückte, stieß sie einen Schrei aus, und ich begriff gerade noch rechtzeitig, wen ich vor mir hatte.
»Mutter Banks!«
In der Speisekammer wurde Mehl gelagert, und in ihrer Hast, sich zu verstecken, hatte sie einen Sack umgestoßen, voller Angst, die Männer wären zurückgekommen. Ich ging zu ihr, um sie zu umarmen, doch sie wich mit unvermindertem Entsetzen zurück. »Ich bin es. Tom!«
»Ich weiß, wer du bist.«
»Ich habe Euch für einen Geist gehalten.«
»Ich glaubte, du würdest mich zu einem machen«, gab sie bitter zurück.
Sie war kalt und distanziert, ganz anders als beim letzten Mal, als ich sie gesehen und sie mich nach Susannahs Tod getröstet hatte. Sie sah mich weiterhin an, als sei ich ein Fremder, und als sie Eaton erblickte, musste ich sie anflehen, zu bleiben. Zuerst dachte ich, sie würde mich meiner Uniform wegen mit den Männern in Verbindung bringen, die hier gewesen waren, aber dann sank mein Mut, als ich begriff, was es war. Sie wich mir aus, genau wie Anne mir vor Jahren ausgewichen war, nachdem Eaton ihr erzählt hatte, ich sei ein Pestkind. Sie würde mich nicht berühren oder auch nur in meine Nähe kommen. Als ich es tat, bewegten sich ihre Lippen in einem stummen Gebet. Ich war ein Wesen, das Unheil brachte. Zuerst hatte ich Susannah den Tod gebracht. Und jetzt dies.
Ich überredete Eaton, sie allein zu lassen, während sie John Ingram behandelte. Aus Kräutern, Seife und Rosenöl stellte sie eine Salbe her und vermischte sie mit Eiweiß. Eaton durchsuchte die Papiere im Kontor, fand indes nichts.
Ich brachte etwas Ordnung in die winzige Kleiderkammer, hob einen Hut auf, der von einem schmutzigen Stiefel eingetreten worden war. Es war ein spitzer Hut, und es war höchst unwahrscheinlich, dass Mr Ingram so etwas jemals tragen würde. Daneben lag ein grauer Frauenumhang. Er war kurz, sehr kurz. Kate Beaumann musste in aller Eile aufgebrochen sein, wenn sie ihn hiergelassen hatte. Vielleicht hatte sie die Männer kommen sehen und war geflohen.
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