Pestsiegel: Historischer Kriminalroman (German Edition)
meine Fingernägel scharrten im Mauerwerk, während ich mich festklammerte, und die Menge grölte unablässig in meine Ohren. Ich liebte ihn. Es gab kein anderes Wort dafür. Gottesgnadentum? Natürlich war er göttlich! Kämpften nicht überall an der Route die Menschen darum, ihm nahe zu sein und mussten von den Zunftmitgliedern zurückgehalten werden? Erhofften sich nicht die Lahmen, Schwachen und Bettler Erleichterung von ihrem Los? Eine Frau drängte sich nach vorn und hielt ihr blindes Kind in die Höhe, in der Hoffnung, dass es für einen Augenblick dieselbe Luft atmen möge wie er.
Ich verrenkte mich, um dem König so lange wie möglich nachblicken zu können, während er in Richtung Cheapside verschwand. Als ich mich widerstrebend wieder umwandte, war ich auf der Stelle wie gelähmt, als ich die Frau in der Kutsche unter mir sah. Anne war wunderschön, aber auf eine frische und schlichte Art. Diese Frau aber war schön wie ein Kunstwerk. Perlen glitzerten in ihrem Haar, ihre Haut war wie dünnes Porzellan, nur auf der Wange prangte frech ein Schönheitsfleck. Ihr Kleid war tief ausgeschnitten, und von meiner erhöhten Position erspähte ich mehr von einer Frau, als ich je zuvor gesehen hatte. Ich hegte keine Zweifel, wer sie war.
»Die Königin!«, rief ich. »Lang lebe die Königin!«
Die Frau blickte auf und lächelte. Ihre Augen waren nicht künstlich. Man könnte sie unmöglich malen. Sie waren von einem so dunklen Blau, dass sie fast schwarz wirkten, und blitzten amüsiert auf. Im Porzellan um sie herum bildeten sich winzige Lachfalten, ehe die Kutsche weiterrollte. In diesem Moment merkte ich, dass die Menschen um mich herum jaulend auflachen.
»Die Königin ist auf und davon, du Idiot!«
»Das ist Lucy Hay.«
»Countess of Carlisle.«
»Straffords Hure.«
Der Earl of Strafford war einer der königlichen Ratgeber gewesen, der nicht nur vom Parlament, sondern auch von vielen Anhängern des Königs für sein skrupelloses, nahezu gesetzloses Streben nach Macht gehasst worden war. Ihm war so viel Unmut entgegengeschlagen, dass selbst der König nicht imstande gewesen war, ihn vor den Anfechtungen zu schützen. Mit größtem Widerwillen hatte er das Todesurteil für seine Hinrichtung im Mai dieses Jahres unterzeichnet.
»Jetzt, wo Strafford tot ist, ist sie John Pyms Hure!«
»Die wechselt die Betten wie die Seiten.«
Es gab noch mehr Gelächter, und unter mir brach ein Kampf aus. Ich achtete nicht auf diese niederträchtigen Anschuldigungen gegen eine so schöne Frau, auf die als Angehörige des Hofes ein Teil der königlichen Göttlichkeit abgefärbt haben musste. Ich war überwältigt von dem Gedanken, dass ich bei ihrem Haus gewesen war, wenn auch nicht näher als bis zu ihrem Scheißhaufen, und dass ich, wenn ich jemals wieder Briefe für Mr Pym überbringen würde, vielleicht einen Blick auf Lucy Hay erhaschen könnte.
»Seht ihn euch an!«
»Er ist verliebt.«
»Komm her zu uns!«
Betrunkene Hände streckten sich nach mir aus. Ich merkte, wie sehr meine Arme schmerzten, und ließ erleichtert den Querbalken los, streckte die Hand nach oben, wo mich jemand zu fassen bekam. Eine andere Hand packte mich am Kragen. Ich stieß mich von dem Wandpfosten, auf dem ich gestanden hatte, ab und griff nach der Fensterbank über mir. Genau in diesem Moment sah ich das Banner. Es wurde vom Fahnenträger eines der Peers in die Höhe gehalten, der nicht in der Gnade des Königs stand, wenn man bedachte, wie weit hinter dem König er ritt. Das Banner zeigte eine Art Vogel, ich wusste nicht, was für einen, aber ich hatte das Gefühl, diese Art zuvor schon einmal gesehen zu haben. Der Vogel tauchte auf und verschwand wieder, sobald der Wind ihn erfasste, als würde er tatsächlich fliegen. Ein Falke. Ich hatte ihn schon einmal gesehen! Als sei es gestern gewesen, war ich wieder mit Matthew auf der Werft und schleppte Pech zur Resolution , an der dieselbe Flagge gehisst war, derselbe Falke, zu Ehren des bedeutenden Edelmanns, der das Schiff in Auftrag gegeben hatte.
Und da war er! Steif saß er auf dem Pferd, als würde er nur noch selten reiten. Er zuckte zusammen, als er sich in der Menge umschaute, und ich sah sein Gesicht. Dieser Bart. Dieser freundliche Blick. Aber nein, gar nicht so freundlich. Das Gesicht glich einem zerknitterten Stück Papier, die ergrauten Brauen waren stirnrunzelnd zusammengezogen. Doch für mich gab es keinen Zweifel, dass er der Edelmann war, der sich über mich gebeugt
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