Schlaflos
01
»Was für ein herrlicher Tag!«
Madeleine kniff die Augen zusammen und spähte über die
Buchenhecke. Durch die extradunklen Gläser ihrer riesigen Sonnenbrille konnte
sie ihre Vermieterin erst ausmachen, als diese sich bewegte. Regine Lindemann
wandte sich von den Rosenbüschen, die sie aufopferungsvoll pflegte, ab und
winkte ihr zu. Madeleine hob den Arm und wedelte unbestimmt zurück.
»Ja, nicht«, antwortete sie ohne Überzeugung. Der Tag war
anstrengend gewesen. Sie sehnte sich danach, endlich ihre Maske abzustreifen.
»Ich wollte es mir grade mit einem Glas Erdbeerbowle auf der
Terrasse gemütlich machen. Ich habe sie heute Mittag selbst angesetzt. Hast du
nicht Lust, mir Gesellschaft zu leisten?«
Madeleine unterdrückte ein Stöhnen. Es war wichtig, Regine
bei Laune zu halten. Aber sie würde einfach zusammenbrechen, wenn sie nicht
bald aus der Sonne kam. In dieser Hitze stundenlang unter einem
durchscheinenden Sonnensegel zu sitzen war ihre Vorstellung von der Hölle!
»Das würde ich wirklich sehr gern. Aber ich hab wieder diese
furchtbare Migräne. Ich werde die Rollläden runterlassen und mir einen
Eisbeutel auf den Kopf packen.«
Regine gab ein mitfühlendes Geräusch von sich. Von
Knitterfältchen umrahmte Augen betrachteten die jüngere Frau teilnahmsvoll.
»Du Ärmste! Immer wenn das Wetter schön ist, nicht wahr? Kein
Wunder, dass du keine Farbe bekommst.«
»Ja.« Madeleine rang sich ein Lächeln ab. Sie musste sich
nicht verstellen, damit es gequält aussah.
»Du arbeitest auch viel zu viel!«, warf Regine ihr vor.
»Wahrscheinlich hast du recht. Aber was soll ich machen? Ich
geh dann mal rein. Einen schönen Abend. Grüß Günther von mir.«
Madeleine wartete mit dem Aufatmen, bis sie die Einfahrt
durchquert hatte und die Treppe zu ihrer Souterrainwohnung erreichte. Jetzt, am
späten Nachmittag, war der Schatten auf dieser Seite des Hauses tief genug, um
ihr ein wenig Erleichterung zu verschaffen.
Die Einliegerwohnung in der stattlichen Villa der Lindemanns
war ein Glückstreffer gewesen. In einer solch gediegenen Wohngegend würde
niemand nach ihr suchen. Und die kleinen, mit einbruchhemmenden Läden
versehenen Fenster der Kellerwohnung kamen ihren Bedürfnissen entgegen. Die
Lindemanns vermieteten nicht, weil sie das Geld brauchten, sondern weil Regine
sich nach dem Auszug ihrer beiden Kinder in dem großen Haus einsam fühlte. Der Familienanschluss war manchmal anstrengend, aber dafür hielt sich die Miete in Grenzen.
Madeleine ließ den Blick durch den gepflegten Garten
schweifen. Direkt zu ihren Füßen dufteten Lavendel und Rosen um die Wette.
Hinter der Rasenfläche, die flauschig wie ein Teppich aussah, ragten
Scheinzypressen auf. Schade eigentlich, dass sie die sonnendurchflutete Idylle
nicht genießen konnte.
Schnell stieg sie die Treppe hinunter zu ihrer Wohnungstür.
Sie fischte den Schlüssel aus der Handtasche und schloss auf. Wunderbare Kühle
und Dunkelheit schlugen ihr aus der Diele entgegen. Sie warf ihre Tasche auf
den Schuhschrank, kickte die hochhakigen Riemchensandaletten von den Füßen und
öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Im Geiste sah sie sich bereits lang
ausgestreckt auf dem Sofa liegen. Doch kaum hatte sie einen Schritt in den Raum
hinein getan blieb sie beunruhigt stehen. Etwas stimmte nicht!
Die Dunkelheit war so angenehm, dass Madeleine sie zunächst
nicht hinterfragt hatte. Heute Morgen, als sie ging, waren da die Läden nicht
offen gewesen?
»Guten Abend, Madeleine!« Die ruhige Baritonstimme ließ ihr
beinahe das Herz stillstehen.
Der Fremde saß bequem zurückgelehnt in ihrem Sessel. Sie war
noch von der Sonne geblendet, sonst hätte sie ihn sofort bemerkt. Er konnte
kein Mensch sein. Einen Menschen hätte sie schon gerochen, als sie die Tür
aufschloss. Zu denen, die nachts nicht schliefen, gehörte er auch nicht.
Madeleine gestattete sich deswegen keine Erleichterung. Nachdem Bastien seit
einem halben Jahrhundert erfolglos halb Europa nach ihr durchforsten ließ, war
es nur naheliegend, dass er seine Taktik irgendwann änderte. Aber wen hatte er
ihr diesmal auf den Hals gehetzt?
Madeleine tat zwei vorsichtige Schritte in den Raum hinein,
um ihren Besucher besser sehen zu können. Sie achtete darauf, dass ihr Weg zur
Tür kürzer blieb, als sein Weg zu ihr. Ob ihr das etwas nützen würde, war die
Frage.
»Ich bitte um Entschuldigung. Es lag nicht in meiner Absicht,
dich zu erschrecken.«
Seine gestochene Ausdrucksweise beunruhigte
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