Peter Hoeg
Eskimos die Säge installieren wollen, kommen sie um. Zwei Tage nach dem ersten Tauchen. Sie sterben fast gleichzeitig, innerhalb einer Stunde. Damit wird alles anders. Das Projekt ist mißlungen, die Zeit ist plötzlich sehr knapp. Sie müssen einen Unfall improvisieren. Das ist natürlich Loyens Job. Er hat so viel Geistesgegenwart, daß er die Leichen verstümmelt. Bereits da hat er das Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist. Noch in Nuuk obduziert er sie. Und was findet er?«
»Die Zeit«, sagt Verlaine.
Tørk ignoriert ihn.
»Er findet den Polarwurm. Ein verbreiteter Parasit. Groß, dreißig bis vierzig Zentimeter, aber ganz gewöhnlich. Ein Fadenwurm, dessen Zyklus man kennt und analysiert hat. Nur eines stimmt nicht. Bei Menschen kommt er nicht vor. Bei Walen, bei Robben, Delphinen, ganz selten auch mal bei Walrossen. Aber nicht beim Menschen. Es passiert jeden Tag, vor allem bei den Eskimos, daß infiziertes Fleisch gegessen wird. Doch in dem Moment, in dem die Larve in den menschlichen Körper eindringt, erkennt unser Immunsystem sie als Fremdkörper, und sie wird von Lymphozyten gefressen. An dieses Immunsystem hat sich die Larve nie gewöhnt. Als sollte sie sich für immer auf bestimmte große Meeressäugetiere beschränken, mit denen zusammen sie sich entwickelt haben muß. Das ist ein Teil des Gleichgewichts der Natur. Stell dir Loyens Erstaunen vor, als er den Wurm nun trotzdem in den Leichen findet. Und das obendrein durch einen Zufall. Weil er im letzten Augenblick gezwungen war, Röntgenaufnahmen zu machen, um sie identifizieren zu können.«
Ich will ihm nicht zuhören, nicht mit ihm reden, aber ich kann es nicht lassen. Außerdem schindet das Zeit.
»Wie war das möglich?«
»Genau diese Frage konnte Loyen nicht beantworten. Deshalb konzentrierte er sich auf etwas anderes. Auf die Art und Weise, wie es passiert ist. Er hatte Proben des Wassers, in dem der Stein lag, mit nach Hause gebracht. Abgesehen von dem Schmelzwasser wird der See an der Oberfläche durch einen höher gelegenen See gespeist. Um ihn herum gibt es eine Vogelwelt. Auch einige Forellen. Und mehrere Krebsarten. Das Wasser um den Stein ist voll davon. Alle Proben, die Loyen mit nach Hause gebracht hatte, waren infiziert. Er versuchte dann also, die Larven in lebendes menschliches Gewebe einzupflanzen.«
»Das klingt gut«, sage ich. »Aber wie hat er das denn gemacht?«
Ich frage und kenne die Antwort schon. Er hat es in Grönland gemacht. In Dänemark wäre die Gefahr, dabei erwischt zu werden, zu groß gewesen.
Tørk sieht, daß ich verstanden habe.
»Er hat fünfundzwanzig Jahre gebraucht. Aber er hat herausbekommen, daß sich die Larve dem menschlichen Immunsystem angepaßt hat. Noch im Mund dringt sie durch die offenen Schleimhäute und bildet aus den Eigenproteinen des Menschen eine Art Haut. In dieser Tarnung verwechselt das Immunsystem sie mit dem Körper und läßt sie in Ruhe. Dann fängt sie an zu wachsen. Nicht langsam, über Monate hinweg wie bei Robben und Walen, sondern schnell, von Stunde zu Stunde oder Minute zu Minute. Selbst die Paarung und die Wanderung durch den Körper, die bei den Wassersäugetieren bis zu einem halben Jahr dauern, brauchen hier nur wenige Tage. Aber das ist nicht das Entscheidende.«
Verlaine hat ihn am Arm gepackt. Tørk sieht ihn an. Er nimmt die Hand zurück.
»Ich muß sie etwas fragen«, sagt Tørk.
Vielleicht glaubt er es selber, doch er redet nicht deshalb. Er redet, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen. Unter der Selbstsicherheit und der scheinbaren Sachlichkeit liegen ein wilder Stolz und ein Triumph über das, was er herausbekommen hat. Verlaine und ich schwitzen und haben angefangen zu husten. Doch er ist kühl und fühlt sich wohl, in dem flackernden Feuerschein ist sein Gesicht voller Ruhe. Vielleicht weil wir mitten im Eis stehen, vielleicht weil ziemlich klar ist, daß wir dem Ende so nahe sind, ist er für mich plötzlich durchsichtig. Und wie immer, wenn ein Erwachsener durchsichtig wird, tritt das Kind hervor. Mir fällt Victor Halkenhvads Brief ein, und plötzlich und ohne daß ich etwas dagegen tun kann, kommen aus meinem Mund die Worte ganz von selbst.
»Wie das Fahrrad, das man als Kind nie bekommen hat.«
Die Bemerkung ist so absurd, daß er sie zuerst nicht versteht. Dann dämmert ihm der Sinn, einen Moment lang schwankt er, als hätte ich ihn geschlagen, einen Moment lang ist er nahe daran, alles hinzuwerfen, doch dann sammelt er alles
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