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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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sei gar kein Gletscher gewesen, sondern nur eine Insel mit ein bißchen Schnee. Er läßt sich nicht klassifizieren.«
    Ich habe ihn erneut eingeholt, er reicht mir das Seil, ich wähle einen Standplatz, er geht weiter. Seine Bewegungen sind agil und methodisch, doch das Eis verleiht ihnen etwas Tastendes, wie bei allen Europäern. Er sieht aus wie ein Blinder, in seiner Blindheit geübt, perfekt an seinen Stock gewöhnt, aber eben doch immer noch blind.
    »Die begrenzten Erklärungsmöglichkeiten der Wissenschaft haben mich immer beschäftigt. Man braucht nur mein eigenes Gebiet zu nehmen, die Biologie. Sie basiert auf zoologischen und botanischen Klassifikationssystemen, die alle zusammengebrochen sind. Als Wissenschaft hat sie keine Grundlage mehr. – Was hältst du von der Veränderung?«
    Er hat unvermittelt gefragt. Ich folge ihm, er windet das geflochtene Doppelseil auf. Wir sind wie Mutter und Kind durch eine Nabelschnur verbunden.
    »Öfter mal was Neues soll gut sein«, sage ich.
    Er reicht mir seine Thermosflasche. Ich trinke. Heißer Tee mit Zitrone. Er bückt sich. Auf dem Schnee liegen ein paar dunkle Körner, zerstoßene Steine.
    »4,6 mal 10 hoch neun. 4,6 Milliarden Jahre. Da hat das Sonnensystem in seiner jetzigen Form angefangen zu existieren. Das Schwierige an der geologischen Geschichte der Erde ist, daß man sie nicht studieren kann. Es gibt keine Spuren. Denn seit damals, seit der Erschaffung der Welt, sind Steine wie diese endlose Male umgesetzt worden. Dasselbe gilt für das Eis hier, die Luft, das Wasser. Ihr Ursprung läßt sich nicht mehr ausfindig machen. Es gibt auf der Erde keine Substanzen, die ihre ursprüngliche Form bewahrt haben. Deshalb sind Meteore so aufschlußreich. Sie kommen von außen, sie sind den Umsetzungsprozessen entgangen, die Lovelock in seiner Theorie von ›Gaia‹ beschrieben hat. Sie haben eine Form, die auf den Ursprung des Sonnensystems zurückgeht. In der Regel bestehen sie denn auch aus den ersten Metallen des Universums. Eisen, Nickel, Silikat. Liest du Romane?«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Das ist ein Fehler. Die Schriftsteller sehen früher als die Wissenschaft, wohin wir uns bewegen. Bei dem, was wir in der Natur finden, geht es nicht so sehr darum, was da zu finden ist. Was wir finden, entscheidet sich einfach dank unserer Möglichkeit zu verstehen. Wie in Jules Vernes' ›Die Goldkugel‹ der Meteor, der sich als der größte Wert erweist, den die Welt je gesehen hat. Wie in Wells' Visionen von anderen Lebensformen. In Pipers ›Uller Uprising‹. In dem Buch wird eine besondere Art von Leben beschrieben. Auf der Grundlage anorganischer Stoffe, aus Silikaten aufgebauter Körper.«
    Wir sind auf ein flaches, windgeschliffenes Plateau gelangt. Vor uns öffnet sich eine Reihe regelmäßiger Spalten. Wir müssen die Ablationszone erreicht haben, die Stelle, an der sich die unteren Schichten des Gletschers an die Oberfläche schieben. Ein Felshöcker hat den Eisstrom geteilt. Weil er aus einer weißlichen Eisart besteht, habe ich ihn von unten nicht gesehen. Jetzt leuchtet der Stein in der zunehmenden Dunkelheit.
    Wo der Boden zu einer Spalte hin abfällt, ist der Schnee festgetrampelt. Hier sind sie stehengeblieben. Von hier aus ist er zurückgegangen, um mich zu holen. Ich frage mich, wie er gewußt haben kann, daß ich kommen würde. Wir setzen uns. Das Eis bildet eine große, schalenförmige Vertiefung, wie eine offene Muschel. Er schraubt den Deckel von seiner Thermosflasche. Er spricht weiter, als sei das Gespräch nicht unterbrochen worden, und vielleicht ist es das auch nicht, vielleicht ist es in ihm weitergegangen, vielleicht hört es in ihm nie auf.
    »Sie ist schön, diese Theorie von der Gaia. Theorien müssen schön sein. Aber natürlich ist sie falsch. Lovelock zeigt, daß die Erde und ihr Ökosystem eine komplexe Maschine sind. Aber er zeigt nicht, daß sie mehr sind als eine Maschine. Gaia unterscheidet sich nicht grundlegend von einem Roboter. Und er teilt einen Mangel mit dem Rest der Biologie. Er erklärt den Beginn nicht. Die erste Form des Lebens, seine Entstehung, das, was den Cyanobakterien vorausgeht. Leben auf der Grundlage anorganischer Stoffe wäre ein solcher erster Schritt.«
    Ich bewege mich vorsichtig, um mich warm zu halten und seine Aufmerksamkeit auf die Probe zu stellen.
    »Loyen war in den Dreißigern hier. Mit einer deutschen Expedition. Sie wollten den Bau eines Flugplatzes auf einem flachen, schmalen Küstenstreifen

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