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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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keinen anderen Ort gegeben, an den ich gehen konnte. Meine Mutter war gestorben, mein Vater verschwunden, bevor ich eine Erinnerung an ihn behalten konnte. Tante Jo sprach niemals über einen der beiden, ganz gleich, wie sehr ich darum bettelte. Und nun, nach all diesen Jahren, gab es immer noch keinen Ort, an den ich gehen konnte.
    Das Mädchen nickte mir zu und ging mit ihrem schweren Eimer fort. Ihre langen, schwarzen Zöpfe schwangen von einer Seite zur anderen. Ihre hübschen Umrisse wurden kleiner, als sie von mir wegging, sodass es beinahe aussah, als würde sie verschwinden, sich im milden Morgenlicht auflösen.
    » Hier bist du ja«, sagte Hartahs Stimme hinter mir. » Hast dir Frühstück besorgt, was? Gut. Du wirst heute Nachmittag Kraft brauchen.«
    Ich drehte mich um. Er lächelte. Ein Mund voller abgebrochener Zähne, in seinem Blick Vorfreude auf das, was uns später bevorstand. Langsam, beinahe so zärtlich wie eine Frau, streckte er einen dicken Finger aus und wischte mir neben den Lippen einen Brotkrümel von der Wange.

2
    Bis zum Mittag war das Fest in vollem Gange. Stonegreen war größer, als ich gedacht hatte. Das Gasthaus, in dem wir übernachtet hatten, lag fünf Meilen entfernt an der Straße, und es gab ein viel besseres Gasthaus neben dem Dorfanger, darüber hinaus eine Schmiedewerkstatt, einen Schuster und den großen, moosbedeckten Stein, dem Stonegreen seinen Namen verdankte. Der Fels reichte mir bis zur Schulter, und jemand hatte um ihn herum Jungfer im Grünen angepflanzt. Ein ruhiger Fluss, an dem Bäume standen, schlängelte sich an strohgedeckten Fachwerkhäuschen vorbei. Auch das Stroh war mit Moos und Flechten bewachsen. Um die Häuser herum wuchsen Malven, Rittersporn, Rosen, Efeu, Kirsch- und Apfelbäume. Dahinter befanden sich ordentliche Kräutergärten, Brunnenhäuser, Hühnerställe und Räucherkammern – all die guten Dinge, die es gab, wenn Frauen über vermögende Haushalte geboten. Ich roch frisches Brot und den süßsauren Duft von heißem Bier.
    Das Fest wurde auf einem Feld am anderen Ende des Ortes abgehalten, weit entfernt vom Anger. Es gab Stände und Zelte, in denen Leute aus der Gegend Getreide, Vieh, Fleischpasteten, Marmelade und Stoff, den die Frauen und Töchter gewebt hatten, verkauften, auch Bier und Schleifen und geschnitztes Holzspielzeug. An anderen Ständen boten Kaufleute aus so weit entfernten Orten wie Gloria, der Hauptstadt des Königinnenreiches, Zinngeschirr, landwirtschaftliche Geräte und Knöpfe an. Eine dritte Gruppe, die weder aus dem Umland noch aus Gloria kam, war mit einer Karawane aus rot und blau bemalten Wagen angereist; sie besuchten den ganzen Sommer lang die Feste auf dem Land. Ich hatte diese Karawanen schon öfter gesehen. Sie hatten einen Feuerschlucker, Marionettenspieler, Jongleure, Fiedler, einen Flohzirkus, einen Zauberer und einen Ringer, der sich allen Herausforderungen stellen würde. Kinder rannten zwischen den Ständen umher, Paare gingen Arm in Arm. Fiedler und Trommler spielten auf, Verkäufer priesen ihre Waren an, zum Verkauf angebotene Tiere blökten oder muhten oder gackerten. Ich sah keine Soldaten, was natürlich ganz gut war.
    » Hier«, sagte Hartah, woraufhin meine Tante und ich begannen, das Zelt von dem Wagen zu laden.
    Unser Stand war im Gegensatz zu den meisten anderen ganz geschlossen. Das verschmutzte und ausgeblichene Tuch zeigte nur eine kleine Sternengruppe, die das Sternbild der Weinenden Frau darstellte. Manchmal traten Leute ein, die dachten, es wäre eine Art Kapelle, aber Hartah schickte sie wieder fort. Andere, die das alte Sternbild und seine verborgene Bedeutung kannten, traten alleine ein, einer nach dem anderen. Sie verhandelten mit Hartah und kehrten später zurück, um ihre Antwort zu erhalten, genauso allein. Hartah konnte weder lesen noch rechnen. Aber er war nicht dumm – er gab gut acht, und es war lange her, dass man uns als Hexen angeprangert hatte. Im Königinnenreich waren Tage des Überflusses angebrochen, und selbst ich mit meinen vierzehn Jahren wusste, dass man in Zeiten des Reichtums weniger oft Leute des Hexenwerks verdächtigte. Die Menschen waren nicht verzweifelt. Es sind die Armen und die Verzweifelten, mit Gefahren aller Art vertraut, die am meisten Furcht vor dem haben, was sie nicht sehen können.
    Auch wenn wir natürlich nicht einmal Hexen waren.
    Als ich an dem schweren Stoff zerrte, dachte ich wieder daran wegzulaufen. Ich könnte es tun. Jungen in meinem Alter

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