Pfad der Seelen
guter Junge sein willst, tränk mein Pferd und die Ladung gleich mit, die mit den gelben Bändern.«
Der Penny landete in der Mitte zwischen Hartah und mir. Ich sah, wie sich die Muskeln in seinen riesigen Schultern spannten, als wollte er danach greifen. Aber der ältere Mann beobachtete uns, und daher nickte Hartah bloß, als würde er mir die Erlaubnis erteilen. Als ob er ein gnädiger Lord wäre – Hartah! Hass brannte hinter meinen Augen. Ich schnappte mir den Penny und ging nach draußen.
Der Tag war mild und klar, am Himmel fanden sich noch Spuren des goldenen und orangefarbenen Sonnenaufgangs, und das stachlige Gras roch nach dem Regen der letzten Nacht. Ich holte Wasser aus dem Brunnen auf dem Hof, sowohl für das Pferd als auch für den Schafbock, der auf dem Wagen angebunden war. An seine Hörner waren gelbe Bänder geknüpft. Weitere Wagen trafen am Gasthaus ein, Bauersleute, die zum Fest kamen. Die Wagenräder ächzten unter dem Gewicht von Gemüse, Schafen, Körben und Kindern. » Die Karawane kommt! Ich habe sie gesehen!«, kreischte ein Kind, das sich so weit aus dem Wagen beugte, dass es beinahe herausfiel. » Ich habe sie gesehen!«
» Nicht so laut«, sagte seine junge Mutter liebevoll. Sie trug ein violettes Kleid und violette Bänder im Haar, und sie hob die Hand, um dem kleinen Jungen über die weichen Locken zu streichen.
Bitterkeit sammelte sich in mir wie Erbrochenes.
Hartah würde mich dazu zwingen. Er würde mich zwingen, den Pfad der Seelen zu betreten, während ich versteckt im hinteren Teil unseres abgetragenen und ausgeblichenen Marktstandes lag. Deshalb waren wir hergekommen. Und damit es mir gelang, würde er mich vorher verprügeln, wie er es jedes Mal zuvor getan hatte.
Ich war keine sechs Jahre mehr alt. Ich war vierzehn und so groß wie Hartah. Aber ich war dürr – wie hätte es auch anders sein können, wenn ich so wenig zu essen bekam? – und hatte schmale Schultern. Hartah konnte auf jeder Schulter ein Fass mit frischem Bier tragen und schwitzte nicht einmal dabei. Aber jetzt hatte ich einen Penny. Konnte ich damit weglaufen? Mit einem einzigen Penny und der Erinnerung an meine tote Mutter in ihrem violetten Kleid?
Nein. Das konnte ich nicht. Wo sollte ich denn hin?
Und doch träumte ich von der Flucht. Manchmal blickte ich Hartah an und war entsetzt von der Heftigkeit, mit der es mich danach verlangte, ihm etwas anzutun. Aber Hartah hatte mir und Tante Jo davon erzählt, dass die Leichen einsamer Reisender neben den Straßen des Königinnenreichs gefunden wurden, nachdem ihnen Räuber aufgelauert hatten, um sie auszurauben und abzuschlachten. Nach solchen Geschichten kuschelte ich mich unter meine dünne Decke und ging nirgendwohin.
Mein Magen knurrte. Ich nahm den Penny, drehte mich zur Küche um und tauschte ihn gegen ein Frühstück ein, das ich im Stehen im Hof hinunterschlang.
Ein Mädchen lehnte am Brunnen. Inzwischen waren einige Mädchen hier, die von Wagen herabkletterten oder hinter ihren Familien her in das Gasthaus liefen. Sie trugen ihre schönsten Kleider, Wollröcke, die grün, rot oder blau gefärbt und über gestreiften Unterröcken gerafft waren, schwarze Mieder, fest über bestickten weißen Kitteln geschnürt, Bänder im Haar. Dieses eine Mädchen war nicht schöner, ihre Augen leuchteten nicht heller, und sie war nicht besser gekleidet als die anderen, auch wenn sie schwarze Spitzenhandschuhe trug. Aber sie beobachtete mich. Die übrigen Mädchen sahen durch mich hindurch, als wäre ich Luft, oder aber ihre Augen wurden schmal und ihre hellroten Lippen verzogen sich angeekelt. Schmutzig. Schwach. Heimatlos.
Aber dieses Mädchen sah mich nachdenklich an, während ihr schwerer Wassereimer an einer Hand baumelte und ihre Schulter nach unten zog. Ein klarer und erschreckender Gedanke überlief mich. Sie wusste es.
Aber das war natürlich Unsinn. Niemand wusste über mich Bescheid, meine Tante und den Bastard, den sie geheiratet hatte, einmal ausgenommen, und manchmal denke ich, dass sogar meine Tante ihre Zweifel hatte. Was soll er können? Täuscht er es nicht einfach nur vor? Aber Tante Jo sagte so wenig, diente Hartah in einer solch bebenden Stille, dass es unmöglich war, ihre Gedanken zu erraten, außer dass sie sich wünschte, ich wäre nach dem Tod ihrer Schwester nicht zu ihr gekommen. Dieser Wunsch war jeden Augenblick eines jeden Tages offensichtlich, aber selbst das wünschte sie sich nicht so innbrünstig wie ich.
Es hatte jedoch
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