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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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Das Gedächtnis betritt den Pfad ohne Verluste. Die Toten wissen, wen sie verlassen haben, und sie wissen, wer sie selbst sind. Sie erinnern sich bestens an das Leben; es interessiert sie nur nicht mehr. Es ist, als wäre das Leben eine Geschichte, die sie einst über den Bekannten eines Bekannten gehört haben, eine Erzählung, die ihnen unerklärlicherweise im Gedächtnis geblieben ist, zu der sie aber keine persönliche Verbindung haben. Für die sie keine Leidenschaft hegen.
    Was interessiert die Toten dann? Trotz all meiner Reisen hierher weiß ich es nicht. Natürlich bin ich niemals lange hier, und nur die Alten reden mit mir. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die Toten mit etwas beschäftigt sind, von dem sie niemals sprechen, nicht einmal untereinander; vielleicht steckt ja aber auch mehr hinter Worten wie jenen von Gevatterin Humphries. » Sieh dir die weißen Steine unter dem Wasser an. Schau, wie sie ihre Gestalt zu verändern scheinen.«
    Die Toten starren jahrelang Steine an. Oder Bäume, Blumen, einen einzelnen Grashalm.
    Die Gevatterin Humphries hatte mich vergessen. Ich zwickte sie fest. Wenn ich ohne Hinweise zu Hartah zurückkehrte, würde die zweite Tracht Prügel schlimmer ausfallen als die erste. Mein Zwicken tat der Gevatterin Humphries nicht weh – nichts tut den Toten weh –, aber es erinnerte sie daran, dass ich hier war.
    Sie fuhr mich an: » Was denn, Junge?«
    » Erzählt mir von der Zeit, als Ihr ein Mädchen wart.« Ich hielt den Atem an.
    Die Kindheit ist das Einzige, das die älteren Toten manchmal zum Reden bringt. Ihr erwachsenes Selbst, ihr langes Leben, die Familien, die sie zurückgelassen hatten – all das bedeutet ihnen nun nichts mehr. Aber was sie selbst als kleine Kinder erlebt haben, das lässt sie manchmal auftauen. Bisweilen zumindest. Vielleicht, weil kleine Kinder in ihrer Einfachheit dem ähnlicher sind, was die Toten jetzt sind. Ich weiß es nicht. Keines der tatsächlichen Kinder hier hat je mit mir gesprochen oder auch nur so gewirkt, als könne es mich sehen.
    Die Gevatterin Humphries lachte wieder gackernd, und ihre alten Augen leuchteten auf. » Ich war ein ziemlicher Tunichtgut! Du würdest es kaum glauben, Junge, aber ich war ein hübsches Kind, mit Haaren wie frisch geprägtes Gold. Aber ich habe mir schwarzes Haar gewünscht, wie meine Freundin Catherine Littlejohn, deshalb habe ich …«
    Eine Familiengeschichte, die bestimmt immer wieder erzählt worden war. Sie führte zu weiteren Geschichten. Ein mit Preisen bedachtes Huhn hatte man der Familie Littlejohn gestohlen und zur Feier der Wintersonnenwende geschlachtet. Ein Adliger, ein Lord namens William Digby, war einmal durch Stonegreen geritten und hatte Ann, jenem hübschen Kind, eine Münze gegeben, die so golden wie ihr Haar war. Ich passte gut auf und beobachtete, wie die Geschichten unter dem Wasser ihre Gestalt veränderten. Und die ganze Zeit über quoll mein Herz über vor Zorn, weil mich Hartah dazu zwang, weil er mich an diesen Ort schickte, mich mit solcher Verzweiflung diesen Nichtigkeiten lauschen ließ, den Geschichten einer Frau, die seit Monaten im Grab lag. Einer Frau, die ich niemals wieder treffen würde. Einer Frau, die tot war, während das auf mich nicht zutraf. Es fühlte sich nur manchmal so an. Sowohl hier als auch dort.

3
    Ich schob es so lange wie möglich auf, wieder zurückzukehren. Ich fürchtete mich immer vor der Erde in meinem Mund, dem Fleisch, das von meinen Knochen fiel, den Maden, der Kälte und der Finsternis. Was, wenn das alles irgendwann einmal kein Ende mehr nahm? Was, wenn ich in diesem schrecklichen Augenblick zwischen Leben und Tod gefangen blieb, ewig wach in meinem verrottenden Grab?
    Und ich wollte nicht zu Hartah zurückkehren. Zurück zu meiner Angst vor dem Dableiben, meiner Angst vor dem Weglaufen.
    Daher drückte ich mich bei dem moosgrünen Stein herum, beobachtete die Toten und versuchte einen weiteren von ihnen dazu zu bringen, sich mit mir zu unterhalten. Keiner ging darauf ein. Sie saßen da und hielten sich im Kreis bei den Händen; oder sie saßen für sich und schauten einen Grashalm an. Einer von ihnen, ein Edelmann oder sogar ein Lord mit seiner Hose und seinem Wams aus Samt und einem Kurzschwert an der Hüfte, lag ausgestreckt auf dem Gras. Er starrte geradewegs hinauf in den grauen, nichtssagenden Himmel. Er blinzelte nicht einmal. Ich wollte ihn treten, aber was, wenn dieses eine Mal ein Tritt auch einen der jüngeren Toten aus seiner

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