Pfad der Seelen
taten so etwas – oder nicht? Sie fanden Arbeit als Knechte auf Bauernhöfen, als Stalljungen oder als Bettler. Aber ich wusste nichts von der Feldarbeit, kaum etwas über Pferde, und ich fürchtete mich nicht nur vor Räubern, sondern auch vor dem Verhungern. Und in ein paar Monaten würde es Winter sein. Wohin gingen Bettler im Winter?
Die Wahrheit ist, dass ich ein Feigling war.
» Bewegung, Roger!«, knurrte Hartah. » Deine Tante arbeitet schneller als du!«
Und das stimmte auch. Tante Jo huschte umher wie ein dürrer Wirbelwind, der sich vor Hartahs Fäusten fürchtete.
Als das Zelt aufgebaut war, schob er mich hinein. Ein grober Tisch war in einer Ecke aufgestellt, darauf eine Decke, die bis zum Boden hing. Darunter würde ich mich ungesehen, aber alles belauschend, einige Stunden lang zusammenkauern, während die Festbesucher mit ihren Fragen kamen. Zu uns würden nicht die fröhlichen Männer, Frauen und Kinder kommen, die ihre Einkäufe schleppten, ihr Bier tranken und Preise für ihre hundert Pfund schweren Schafböcke gewannen. Uns würden andere Leute aufsuchen, wie man sie in jedem Dorf, jeder Stadt, jeder blumengeschmückten Hütte des Reichs fand. Jene Leute, die die Glücklichen am liebsten übersehen wollten, damit sie ihnen nicht das Vergnügen am Fest verdarben. Jene, die in Bedrängnis, trauernd oder furchtsam waren. Meine Leute.
Und so würde es wieder von Neuem beginnen.
Zum ersten Mal hatte ich mit sechs Jahren den Pfad der Seelen betreten. Inzwischen war ich vierzehn, und es war das Gleiche, immer das Gleiche, stets das Gleiche.
Den ganzen Vormittag lag ich unter meinem Tisch eingezwängt und hörte zu. Dann, am Mittag, als die Sonne heiß auf das schwere Zelttuch herabschien, wurde die Zeltklappe zugeknöpft, und Hartah zerrte mich hervor. Er lächelte. » Fertig, Junge?«
» Hartah …« Ich verabscheute es, wie meine Stimme bebte, wie matt ich meine Hand hob, um mein Gesicht zu schützen, verabscheute es, dass ich zu viel Angst vor ihm hatte, um mich zu wehren. Seine Faust schlug mir in den Magen. Die ganze Luft entwich aus meinen Lungen, und ich keuchte vor Schmerz auf. Er prügelte weiter auf mich ein, auf die Brust, die Lenden, auf alle Orte, die von Kleidung bedeckt waren, sodass man keine blauen Flecken sehen würde. Im Lärm der Fiedeln und Trommeln und kreischenden Kinder gingen meine Schreie unter. Ich bin längst kein Kind mehr, das den Pfad der Seelen durch das unbewusste Loslassen eines Säuglings betritt; ich musste mich dazu entscheiden. Schmerzen und eine bewusste Entscheidung. Ich zwang mich dazu, und noch während mein Körper zu Boden fiel, geschah es.
Dunkelheit …
Kälte …
Erstickender Dreck in meinem Mund …
Würmer in meinen Augen …
Erde, die meine fleischlosen Arme und Beine umschloss …
Aber nur einen Augenblick lang. Ich war schließlich nicht richtig tot. Der Vorgeschmack des Todes dauerte nur für den kurzen Moment des Übergangs an, während ich die Grenze überwand, die niemand sonst überschreiten konnte, nicht einmal die Toten selbst. Eine gewaltige Grenze, fest und groß wie die Erde selbst, und genauso unmöglich zu durchdringen. Außer – aus Gründen, die ich nicht verstand – für mich.
Ich versuchte noch einmal zu schreien und konnte es nicht, weil mir Erde den Mund verschloss. Ich versuchte, mit den Armen um mich zu schlagen, und konnte es nicht, weil ich kein Fleisch und keine Muskeln auf den bloßen Knochen hatte. Dann war es vorbei. Die Erde war weg, meine Knochen waren wiederhergestellt, und ich hatte den Pfad ins Land der Toten betreten.
Ein paar Tote saßen auf dem Boden, mit dem beschäftigt, womit sich die Toten eben beschäftigten. Ich schenkte ihnen keine Beachtung und musterte meine Umgebung. Dort in der Ferne glitzerte Wasser … Das konnte der Fluss neben Stonegreen sein.
Das Land der Toten war wie unser Land, manchmal jedoch seltsam gedehnt und verzogen. Ein paar Schritte in Stonegreen mochten hier eine halbe Meile sein, oder zwei Meilen, oder fünf. Oder sie waren vielleicht doch genau gleich lang. Manchmal gab es unsere Flüsse und Wälder und Hügel auch hier, manchmal auch nicht. Das Land der Toten ist weiter als unseres, und ich glaube, dass es sich mit der Zeit verändert, genauso wie das unsere, aber nicht auf die gleiche Weise. Es ist eine Verfestigung unserer Schatten. Wie ein Schatten schrumpft und wächst es, jedoch durch einen unsichtbaren Einfluss, der nicht die Sonne ist. Hier gibt es keine
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