Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
der Türkei, einem verschwundenen Pharaonengrab in Ägypten oder einem vergessenen Tempel in Persien an. Dieser Tage waren sie eher daran gewöhnt, unter den Sternen zu campieren als zu tanzen. Nate zog an seinem kratzigen gestärkten Kragen, der ihm den Hals einschnürte. Ohne Frage, bequemer hatten sie es auf ihrer Expedition allemal. Trotzdem tat es gut, zu Hause zu sein.
»So ungern ich es zugebe, mir hat die Londoner Saison gefehlt«, sagte Quint nachdenklich.
Nate schnaubte. »Das zu glauben, fällt mir schwer. Ich dachte, du hasst all dies.«
»Unsinn, lieber Bruder.« Quint blickte in die Menge. »Ich konnte mich lediglich nie für die unbarmherzigen Regeln erwärmen, die alles beherrschen. Dieses Ganze ›Du musst dies tun‹ und ›Du darfst jenes auf keinen Fall‹. Aber das Aufgebot an englischer Schönheit, das während der Saison zu sehen ist, ist unübertroffen. Es ist ein Fest, das jede Mühe lohnt.«
Nate schmunzelte. »Ein Fest?«
»Unbedingt.« Quint stützte seine Unterarme auf das Balkongeländer, faltete die Hände und suchte die Menge ab, bis er zu einer Gruppe junger Damen mit frischen, rosigen Gesichtern und weißen Ballkleidern nickte.
Nate folgte seinem Blick, doch seine Augen wurden von einer dunkelhaarigen jungen Dame angezogen. Sie trug ein Kleid in einem dunklen Apricot-Ton und schlenderte über die Terrasse, als würde sie nach etwas oder jemandem suchen.
»Dort hast du die Debütantinnen in ihrer ersten Saison. Sie sind sozusagen der erste Gang, leicht und den Appetit anregend. Eine zarte Andeutung dessen, was noch kommen wird.«
»Und der zweite Gang?« Die Frau hielt sich mit der Selbstgewissheit einer geborenen Schönheit, dennoch hatte Nate das absurde Gefühl, sie wäre hier irgendwie fehl am Platz. Was für ein dummer Gedanke! Er kannte nicht einmal die Hälfte der anwesenden Gäste und konnte folglich gar nicht wissen, wer hierher gehörte und wer nicht. Was ihm ohnehin vollkommen gleich war.
»Dort.« Quint wies auf eine weitere Gruppe pastellgewandeter junger Damen. »Es ist gewiss ihre zweite oder dritte Saison, mindestens. Die sind schon etwas vollmundiger, wenn auch immer noch eine Vorspeise. Was den Hauptgang betrifft …« Nachdenklich blinzelte er hinab. »Das Arrangement einer Speise, wie sehr sie das Auge anspricht, ist ebenso entscheidend wie der Geschmack. Ohne ein reizvolles Bild, das den Appetit anregt, geht es nicht. Die Damen in den kräftigeren Farben sind verheiratet oder verwitwet und längst über die Trauerzeit hinweg. Hier, mein Bruder, muss man sich aussuchen, von welchem Teller man vorsichtig kostet. Eine verheiratete Dame mag ein vorzüglicher Hauptgang sein, ein erboster Gemahl indes sorgt für unerfreuliche Nachwirkungen.«
»Verdauungsstörungen?«, sagte Nate abwesend, der immer noch die Unbekannte mit seinen Blicken verfolgte, die sich am Rande der Terrasse durch die Gäste schlängelte. Auch wenn er ihr Gesicht nicht allzu deutlich ausmachen konnte, kamen ihm ihre Züge seltsam bekannt vor. War er ihr schon einmal begegnet? Vor Jahren vielleicht? Oder auf einem seiner raren Besuche zu Hause? Unsinn, vom Balkon aus konnte er sie einfach viel zu schlecht erkennen.
»Mindestens. Aber eine Witwe, die sich mit ihrem Witwensein wohlfühlt und keinen Wunsch hat, nochmals eine Ehefrau zu werden, kann ein höchst vollmundiges und befriedigendes«, Quint grinste, »Speiseerlebnis sein.«
»Sehr geschmackvoll«, murmelte Nate.
Quint warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Hörst du mir eigentlich zu?«
»Was? Ja, selbstverständlich«, sagte Nate rasch und richtete sich auf. »Ich lausche jedem einzelnen deiner Worte. Ich glaube, du bist jetzt beim«, er räusperte sich, »Dessert.«
»Eine wichtige und entzückende Ergänzung jeder Mahlzeit«, fuhr Quint fort. »Obgleich das Dessert gänzlich vom individuellen Geschmack abhängt. Eine leichte, luftige Kreation aus Zucker und Luft …«
»Ähnlich dem ersten Gang?«
Quint nickte. »Könnte man sagen. Während sie der Zunge schmeichelt, kann solch eine Süßigkeit zu permanenter einseitiger Ernährung führen, was ich persönlich lieber vermeide. Und eine schwerere Nachspeise, beispielsweise ein Pudding, kann durchaus genüsslich sein, solange man achtgibt, keine Vorliebe für sie zu entwickeln.«
»Andernfalls könnte man für den Rest seines Lebens nur noch Pudding essen?«
»Richtig. Und so sehr ich Pudding mag, kann ich mir nicht vorstellen, ihn für den Rest meines Lebens täglich zu
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