Pfade Ins Zwielicht
Mutter. Es war eine Schande, ihn zu verwässern. Und ich habe vor dem Schlafengehen die Ziegenmilch getrunken.« Wenn ihr etwas die Schwangerschaftskrankheit brachte, dann die Ziegenmilch! Wenn sie nur daran dachte, dass sie Ziegenmilch einmal gern getrunken hatte.
Aviendha stemmte die Hände in die Hüften und stellte eine derartige Entrüstung zur Schau, dass Elayne lachen musste. Es gab Unbequemlichkeiten, wenn man ein Kind erwartete, von abrupten Stimmungsschwankungen angefangen über extreme Sensibilität in den Brüsten bis hin zu ständiger Müdigkeit, aber in gewisser Weise war das ewige Verhätscheltwerden am schlimmsten. Im Königlichen Palast wusste jeder, dass sie schwanger war - viele hatten es vor ihr gewusst, was Mins Vorahnungen und ihrem viel zu losen Mundwerk zu verdanken war -, und sie glaubte nicht, als Säugling derart bemuttert worden zu sein. Aber sie erduldete alles mit so viel Anstand, wie sie aufbringen konnte. Jedenfalls meistens. Sie versuchten alle nur zu helfen. Sie wünschte bloß, dass nicht jede Frau, die sie kannte, der Überzeugung sein würde, dass die Schwangerschaft ihr den Verstand genommen hatte. Fast jede Frau, die sie kannte, jene, die selbst noch keine Kinder hatten, waren die schlimmsten.
Der Gedanke an ihr Baby - manchmal wünschte sie, Min hätte verraten, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, oder dass Aviendha oder Birgitte sich an Mins genaue Worte erinnern könnten; Min irrte sich niemals, aber die drei hatten in jener Nacht einige Becher Wein getrunken, und Min hatte den Palast verlassen, bevor sie sie hatte fragen können - ließ sie unwillkürlich auch an Rand denken, so wie der Gedanke an ihn sie an ihr Baby denken ließ. Das eine folgte dem anderen so unweigerlich, wie in einer Milchkanne Schaum nach oben stieg. Sie vermisste Rand schrecklich, dabei konnte sie ihn gar nicht vermissen. Ein Teil von ihm, seine Essenz, war ständig in ihrem Hinterkopf präsent, solange sie den Bund nicht verschleierte, direkt neben der Essenz von Birgitte, ihrer anderen Behüterin. Aber der Bund hatte seine Grenzen. Rand hielt sich irgendwo im Westen auf, so weit entfernt, dass sie kaum mehr wusste, als dass er am Leben war. Nicht mehr, obwohl sie fest davon überzeugt war, dass sie es wissen würde, wenn er schwer verletzt wäre. Sie war sich nicht sicher, ob sie genau wissen wollte, was er vorhatte. Nachdem er sie verlassen hatte, war er eine lange Zeit im Süden gewesen, und gerade an diesem Morgen war er mit Hilfe des Schnellen Reisens in den Westen gegangen. Es verwirrte sie, ihn im einen Augenblick in einer bestimmten Richtung zu spüren und dann im nächsten in einer ganz anderen und noch weiter weg. Er konnte Feinde verfolgen oder vor Feinden fliehen, es waren auch tausend andere Dinge vorstellbar. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass der Grund für seinen Ortswechsel harmlos war. Er würde allzu bald sterben - Männer, die die Macht lenken konnten, starben immer daran -, aber sie wollte ihn so lange wie möglich am Leben erhalten.
»Es geht ihm gut«, sagte Aviendha, als hätte sie ihre Gedanken lesen können. Seitdem sie sich einander gegenseitig als Erstschwestern adoptiert hatten, teilten sie ein eigenes Gespür für die andere, aber das ging nicht so tief wie der Behüterbund, den sie und Min mit Rand teilten. »Wenn er sich umbringen lässt, schneide ich ihm die Ohren ab.«
Elayne blinzelte, dann lachte sie wieder, und nach einem überraschten Blick stimmte Aviendha in das Lachen ein. So toll war der Witz nicht gewesen, höchstens für einen Aiel - Aviendha hatte einen sehr merkwürdigen Sinn für Humor -, aber Elayne konnte nicht aufhören zu lachen, und Aviendha ging es ebenso. Sie umarmten einander lachend und hielten sich fest. Das Leben war schon seltsam. Hätte ihr jemand vor ein paar Jahren gesagt, dass sie sich einen Mann mit einer anderen Frau teilen würde - mit zwei anderen Frauen! -, hätte sie ihn für verrückt erklärt. Allein die Vorstellung wäre unanständig gewesen. Aber sie liebte Aviendha genauso sehr wie Rand, nur auf eine andere Weise, und die Aiel liebte ihn genauso sehr, wie sie ihn liebte. Das zu verneinen hätte bedeutet, Aviendha zu verneinen, und da hätte sie genauso gut aus ihrer Haut schlüpfen können. Aielfrauen - egal ob Schwestern oder enge Freundinnen - heirateten oft denselben Mann und ließen ihm in dieser Sache nur selten eine Wahl. Sie würde Rand heiraten, und Aviendha auch, und Min ebenfalls. Was auch immer jemand davon
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