Pferdekuss
Als ich im Neubau neben dem alten Bauernhaus einzog, war das Ensemble schon fertig. Es gab siebzig Privatpferden in Stallkasernen jen seits der Ars Raum. Im Wirtschaftshaus wohnten Stallknechte. Die Reithalle war groß genug, um Auktionen und Turniere abzuhalten. Die Zuchthengste deckten jedes Jahr an die dreißig Stuten, die sommers mit ihren Saugfohlen auf den Weiden im Norden standen. Die Generationen der Junghengste waren auf drei Nordwei den untergebracht.
Rauchschwalben kreischten von den Nestern unter den Dächern und in den Außenboxen des Hofs in den Him mel. Freitagvormittag war nicht viel los. Ein paar Hausfrauen und Rentner trödelten mit ihren Gäulen. Die Berufstäti gen kamen erst abends, die Mädchen erst, wenn die Schule aus war. Ich lotste meine Mutter um die Fährnisse eines Reiterhofs herum, Deichseln von Pferdeanhängern, Schubkarren, Holzstapel und Katzen.
Vom Wirtschaftshaus her kam eine junge Frau in Reithosen mit rappschwarzen Locken. Mein Herzschlag setzte aus. Warum hatte ich nicht damit gerechnet, sie zu sehen: Todts Schwester Siglinde, eine Amazone von Kindesbeinen an, trocken, breithüftig und mit harten Handgelenken, acht Jahre jünger als ihr Bruder und damit in meinem Alter. Ich hatte sie auf unserer Hochzeit das erste Mal gesehen und dann anderthalb Jahre lang nicht mehr. Als sie sich nach abgeschlossener Ausbildung in den Renn- und Zuchtställen von Oldenburg und Hannover wieder auf dem Hof einrichtete, beäugten wir uns verschiedentlich sogar mit Wohlgefallen, aber das streitsüchtige Klima, das ihr Vater zu schaffen verstand, verhinderte, dass wir uns näherkamen. Sie hatte Todts hämatitschwarze Augen, und sie besaß das Gallion’sche Kinn, diesen Kiefer puren Siegeswillens.
»Lisa? Bist du’s wirklich? Ich werd verrückt!« Sie klang nicht so, als würde sie verrückt. Siglindes Gefühle bemächtigten sich nur im Zorn ihrer Stimme. Freundlichkeiten klangen immer wie einstudiert. »Wie geht es dir denn? Hast du endlich wieder den Weg nach Vingen gefunden? Was für eine nette Überraschung.«
»Wir kommen deinem Vater gratulieren.«
»So seht ihr auch aus.« Ihre Augen rutschten mein Kostüm herab. »Der Bürgermeister ist auch schon da. Wart, ich bring euch rauf. Papa wird sich freuen.«
Das war gelogen. Doch erleichterte es mich, auf dem Gestüt einer Gallion zu begegnen, die die Höflichkeit über die Wahrheitsliebe stellte, mit der der General seine Mitmenschen zu geißeln pflegte. Siglinde hatte in den fünf Jahren, die sie die Geschicke des Gestüts bestimmte, deutlich Umgangsformen dazugelernt. Ich kannte sie noch als ungezügeltes Gör, das sich gegen das Kavalleristenwissen des Generals und die ausgefeilten Urteile ihres Bruders durchzukeifen versuchte.
Beruhigend war auch, dass der Alte tatsächlich Geburtstag hatte. Ich neigte dazu, solche Termine für Phantasien meiner Mutter zu halten, die lediglich einen Anlass suchte, unter den Alten und Siechen des Kaffs neue Beu te für christliche Hilfsdienste zu machen.
»Wie geht’s ihm denn?«, erkundigte ich mich, während wir auf das alte Bauernhaus mit dem modernen Anbau zugingen.
»Der Jüngste ist er natürlich nicht mehr, aber geistig immer noch topfit. Nur das Rheuma macht ihm arg zu schaffen.«
Meine Mutter presste befriedigt die Lippen zusam men. »Rheuma, damit ist nicht zu spaßen.«
An der Tür zur Küche drehte sich Siglinde noch mal um und erklärte, sie warte auf einen Züchter mit einer rossigen Stute, der jede Minute eintreffen müsse. Dann streifte sie die Turnschuhe auf einem Putzlumpen ab und schlüpfte in Hauslatschen. In der großen Küche des alten Bauernhauses wirtschaftete immer noch die Haushälterin Kobel.
»Na, Mimi, kennst du Lisa wieder?«
Mimi Kobel zog die Hand aus dem Brustkorb eines nackten Kaninchens, ließ Herz und Nieren auf einen Tel ler fallen und wischte die Hände an der Schürze ab. Ihre Augen verfüsselten sich in meinem Kostüm. »So, hosch uns doch no net vergesse’.«
Die schwierige grammatische Form des Sie wandte sie nur beim General an. Für mich war sie dennoch auch nie Mimi gewesen, so wie für die Gallion’schen Kinder, die sie nach dem Tod der Mutter bei Siglindes Geburt gefüt tert und gewaschen und mit Familienstolz vollgestopft hatte. Für sie war ich bestenfalls eine neue Hausbedienstete gewesen, die sie nur nicht so anfegen durfte, wie es ihr richtig erschien.
Der General hatte nach dem Tod seiner Frau, einer Ed len aus ostpreußischem Adel, nicht
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