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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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wieder geheiratet. Er stammte aus dem Elsässischen, aber sein Vater hatte als SS-Offizier in Polen Aufgaben zu erfüllen gehabt, die im Hause Gallion niemand zu erwähnen wagte. Nach dem Krieg hatte er den Aussiedlerhof in Vingen gekauft und war reich geworden. Während Kobel resolut sein Haus führte, hatte er sich in lockerer Folge Geliebte in Eningen und Reutlingen gehalten. Das war allgemein bekannt, aber er machte es so diskret, dass sich das Gere de in Grenzen hielt.
    Wir traten über den Gang ins Treppenhaus des Neubaus und stiegen die Treppe hoch. Als echter Bauer hatte Gallion nicht das Geringste übrig für das alte Fachwerkhaus mit seiner katzenreichen Großküche und den knarzenden Stuben. Er sah sich würdig repräsentiert nur in einem Neubau mit Tapeten, Teppich, Couchtisch und Tischdecke auf dem Esstisch. Das Mobiliar hatte Karola Gallion einst in den fünfziger Jahren angeschafft. Es war massiv und zeitlos. Sie soll eine feinnervige Frau gewesen sein mit Sinn für Blumen, Bilder und Musik. Dem Ganzen hatte Mimi Kobel bei Übernahme des Regiments Schondeckchen und Überteppiche angedeihen lassen.
    Unerschrocken betrat meine Mutter die gute Stube. Am Fenster zum Hof stand der große Esstisch, an dem sonntags die Familiendramen eskalierten. An diesem Tisch lernte ich das Wort »güst« für Unfruchtbarkeit bei Kühen und Stuten, als der Alte mich fragte, ob sein Sohn eigentlich eine güste Erbschleicherin geheiratet habe oder ob er noch vor seinem Tod mit Enkeln rechnen dür fe, und als er Todt, der vor Wut zitterte, einen Schlappschwanz nannte.
    Im Schatten einer Eichenschrankwand saß der General in seinem Lebensabendsessel zwischen Hengstbüchern und Pferdezeitschriften. Friedrich Gallion bestand nur noch aus Knochen, Sehnen und Kinn. Die Nase sprang ihm hakig aus dem Gesicht, die Kinnlade ankerte schwer an den löchrigen Schläfen.
    Das Haar war weiß und spärlich, die Hämatit-Iris färb te seine Augäpfel rot. Zum ersten Mal in meinem Leben stellte ich mit Genugtuung fest, dass jemand an der Schwelle zum Grab stand, und erschrak, denn genau diesen Triumph teilte ich mit meiner Mutter.
    Er blieb sitzen, während sich hinter dem Blumengebinde mit knirschender Klarsichtfolie Bürgermeister Wagner aus dem Sofa hochkämpfte und den Janker glattzog, der nicht recht zu seiner Brille und seinem Eierkopf passen wollte. Meine Mutter war in Fragen dörflicher Etikette trittsicher, missachtete den Bürgermeister, der zwar der christlichen Partei angehörte, aber nicht von hier war, und überreichte dem Jubilar das Geschenk mit Segens- und ausführlichen Gesundheitswünschen. Der Alte presste die Lippen zusammen und kräuselte die Mundwinkel.
    »Ist das nicht nett«, sagte Siglinde im Versuch die Unhöflichkeiten des Vaters zu überblenden. »Alle den ken Sie noch an dich. Sogar Lisa ist gekommen. Na, erkennst du sie wieder?«
    Der General lachte tonlos, wie immer, wenn Siglinde ein Fauxpas unterlief. Ihr fehlte die Bremse zwischen Denken und Plappern, die andere daran gehindert hätte, auf meine Verunstaltung anzuspielen.
    »Ist ja wieder ganz hübsch geworden, deine Fratze«, sagte er, denn er hatte es nicht nötig, taktvoll zu sein. Seine Augen verweilten zwischen meinen Schenkeln am Saum des Rocks, als ich ihm die Hand reichte, um meine Glückwünsche zu entbieten. Während meine Mutter nun den Bürgermeister begrüßte, öffnete Friedrich Gallion die Lippen und sagte ganz leise und mir direkt ins Gesicht: »Auf wen hast du es denn jetzt abgesehen, he?«
    Siglinde nötigte uns zum Kirsch. Meine Mutter lehnte nicht ab. Der Bürgermeister sprach einen Toast. Ich zog mich ans Fenster zurück.
    Emsiger Frieden lag über Hof und Stallungen und dem sanft gen Norden schwingenden Land. Rot die Dächer, grün die Weiden, darüber wie eine Haube der Himmel mit den Schwalben. Unten rundeten sich Pferdeleiber im Sonnenlicht. Hufeisen klapperten. Tiere schnaubten. Wozu sollte ich einem alten Mann grollen, dem der Tod in den Schläfen pochte? Er hatte seinen Sohn auf dem Gewissen. Damit musste er ins Grab, nicht ich.
    Ein Geländewagen mit Pferdeanhänger fuhr auf den Hof. Ich wandte mich zu Siglinde um. »Die rossige Stute kommt.«
    Sie sprang zu mir ans Fenster und blickte hinaus. Ich erhaschte den Stutengeruch ihres Haares. Sie musterte meinen Rock abwärts. »Na, kommst du mit?«
    Wir entwischten die Treppe hinab und umsegelten auf dem Hof die Flotte der anrückenden Herren in Anzügen und schwerem Schuhwerk,

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