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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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abholte. Danach nahm sie meine Erziehung energisch in die Hand.
    »Du siehst schlecht aus«, bemerkte sie. »Bist du krank?«
    »Nein.«
    »Dann bist du schwanger.«
    »Nein.«
    Meine Mutter maß mit Missfallen meine Jeans. Wahrscheinlich hatte ich mich deshalb in ein Jackett gehüllt, damit ihr Blick so wenig Fläche wie möglich bekam, an meinem Leib herumzuzwicken. Als Siebzehnjährige hat te ich den Kauf eines Büstenhalters gegen den Verdacht meiner Mutter verteidigen müssen, ich hätte es auf Männer abgesehen, was so falsch ja nicht war. Heute würde sie gegen das Fehlen des BHs unter meinem T-Shirt mit derselben Argumentation anrücken.
    »Etwas Besonderes kann ich dir nicht bieten«, sagte sie, als wir die Stube betraten. »Du bist sicher inzwischen Besseres gewohnt.«
    Über dem Fernseher krümmte sich Jesus am Kreuz im vergeblichen Bemühen, das Leid der Menschheit auf sich zu nehmen, an der Wand über dem Sofa hing in Farbe und von Pfeilen durchbohrt der heilige Sebastian. Auf dem Tisch, der dem Sofa auf ganzer Länge die Beinfreiheit nahm, harrte noch eingeschlagen in Papier vom Bäcker ein Gebäck meiner Ankunft. Meine Mutter erklärte sich bereit, Kaffee zu machen, brachte aber nicht das gute Porzellan, sondern die alten Tassen. Ich setzte mich in den Sessel mit dem Rücken zum Kruzifix und mit Blick auf den heiligen Sebastian. Die Blutstropfen leuchteten rubinrot. Ich gierte nach einer Zigarette, traute mich aber nicht.
    »Ich habe Apfelkuchen gekauft«, sagte meine Mutter und entfaltete mit gebremster Gier das Papier über zwei matschigen Tortenstücken auf einer Pappschale. Ich brauchte mir nicht den Kopf zu zerbrechen, welche mütterliche Grausamkeit sie auf die Idee gebracht hatte, mich ausgerechnet mit Apfelkuchen zu strafen. Immerhin hatte sie überhaupt etwas gekauft. Nie hatte sie die Notwendigkeit empfunden, meine Vorlieben und Abneigungen zu ergründen. Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Und im Übrigen, was wollte ich auf dem Gymnasium in Eningen? Mädchen heirateten sowieso, und bis dahin war Fremdsprachensekretärin ein hinreichend or dentlicher Beruf. Letztlich hatte es mir ja nicht gescha det. Oder? Schon mit achtzehn hatte ich als Sekretärin im Im- und Export der Firma Gallion Obstsäfte wahnwitzige zweitausend Mark verdient.
    Der Tortenheber mit dem Kuchenstück zauderte über den Tellern. Wem das größere Stück? Auch wenn die Hand nicht wollte, der Geist meiner Mutter war zu jedem demonstrativen Opfer bereit. Ich bekam die Ecke mit dem Apfelscheit mehr.
    »Tante Trude hat dich vermisst auf der Beerdigung vom Onkel Karle voriges Jahr«, sagte sie, als der Kaffee in die Tassen strullte, »ich habe gesagt, dass du im Ausland bist …«
    Die katholische Denkungsart widersprach der Lüge nicht, im Gegenteil. Meine Mutter log, wann immer es galt, die Gebrechen der Familie vor dörflicher Schadenfreude zu verbergen.
    Ich betrachtete das Papierbild an der Wand neben dem Fenster. Es zeigte einen Wanderer auf schmalem Steg über einem Abgrund, verfolgt von einem Schutzengel, der die Hand nach ihm ausstreckte.
    Meine Mutter hatte immer gewusst, wo es langging. Gott strafte die anderen, zum Beispiel meinen Vater, weil er immer jüngere Büromädchen einstellte, oder Todt Gallion, weil seine Familie glaubte, sie sei was Besseres. Onkel Karle starb an Kehlkopfkrebs, weil er das Rauchen nicht lassen wollte, und Tante Trude stand jetzt ohne ei nen Pfennig da, weil sie vorher schon nie das Geld zusammenhalten konnte und einmal die Woche nach Reutlingen zum Friseur fuhr. Davon kam dann auch, dass ihr Sohn Roland mit seiner Frau Annemarie nach Reutlingen gezogen war und von der Mutter nichts mehr wissen wollte, weil da die Annemarie dahintersteckte. Dabei wäre Trudes Haus in Vingen groß genug für alle gewesen. Dasselbe galt für mich, nur dass meine Mutter sich nichts vorzuwerfen hatte und darum lieber herumerzähl te, ich sei im Ausland verhindert.
    Gegen sechs wollte sie zum Grab und hernach die Kirche für eine Hochzeit schmücken. Ich brachte meine Reisetasche ins Kinderzimmer hinauf und riss erst einmal das Fenster auf, das in der Gaupe zwischen schrägen Wänden auf Nachbars Garten wies. Hinter den Dächern der Siedlung spickten die Giebel der neuen Villen hervor. Dahinter erhob sich kühl die Wand der Hohen Warte mit ihrem Laubwald und Jurakalkfels. Süßer Sommerduft nach gemähtem Rasen, blühenden Wiesen und Kuhstall strömte herein, gemischt mit Autoabgasen und

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