Pforten der Nacht
kehrte zu seinem Text zurück, während der Chor der Brüder inbrünstig das »Gloria« anstimmte.
»Gelobet seist du, mein Herr,
für Schwester Mond und die Sterne,
am Himmel hast du sie geformt,
klar, kostbar und schön.«
Jedes einzelne Wort war wahr. Seine hellen Augen unter den buschigen Brauen glänzten. Er hatte eine markante, fleischlose Nase, die ihm etwas Kühnes verlieh. Ein Denker, ja, das war er, jemand, hinter dessen breiter Stirn sich schon seit jeher die unterschiedlichsten Ideen verschanzt hatten. Das war keine tote Materie! Die Welt, die Gott erschaffen hatte, pulsierte, lebte, veränderte sich. Ohne Unterlass und immer schneller, je älter man wurde, zumindest kam es ihm so vor, aber doch stets so, wie es der ewige Plan vorgesehen hatte, auch wenn das menschliche Hirn zu eng und klein war, um es zu begreifen. Alles war vorhanden, alles in Fülle und Schönheit bereitgestellt - gäbe es die Menschen nicht und mit ihnen Habsucht, Neid und Gier, auch das Diesseits wäre kein Jammertal, sondern ein friedliches Paradies!
»… Gelobet seist du, mein Herr,
für unsere Schwester Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt,
mit bunten Blumen und Kräutern.«
Ja, Gott hatte diese Welt wahrhaft perfekt erdacht, in einem für menschliches Vorstellungsvermögen ganz und gar unbegreiflichen Akt allumfassender Liebe. An den Elementen - Luft, Feuer, Erde und Wasser - lag es sicherlich nicht, dass die Menschen dennoch nicht zur Ruhe kamen! Es war in ihnen selbst begründet, in der inneren Zerrissenheit, die sie ohne Unterlass quälte, in der Gier nach Materiellem, die nichts als Unheil stiftete. Wer war denn noch bereit, heutzutage so zu leben, wie Jesus und seine Jünger es vorgelebt hatten - arm, bußfertig, in ständigem Dialog mit Gott und nur deshalb würdig, nach dem Tod Erbe und König des Himmelreichs zu werden?
Selbst viele derer, die sich durch ständigen Nahrungsentzug, wenig Schlaf, Barfußgehen und Züchtigung kasteiten, hatten den rechten Pfad verlassen. Immer häufiger traf er auf solche meist jungen emphatischen Geschöpfe, die danach brannten, in der Ekstase die Süße Gottes zu erfahren, und er fürchtete sich vor ihnen in der Tiefe seiner Seele. Wie konnten sie so in die Irre laufen? Denn es ging doch nicht darum, den Leib zu vernichten, sondern ihn zu vergessen und durch die Bindung aller Kräfte in der Liebe zu Gott gefangenzunehmen. Nur auf diese Weise war er dem Geist unterzuordnen. Wie die gelungene Zähmung eines wilden Tieres. Erst wenn das vollbracht war, ließ sich auch das komplizierte Zusammenspiel der Gefühle kontrollieren und damit beherrschen.
Kein einfacher Weg, ganz im Gegenteil.
Er war ihn viele Male schon gegangen und noch längst nicht am Ziel angelangt. Frieden war nichts, was einem zufiel. Inneren Frieden musste man sich hart erarbeiten. Aber er war ein Suchender, immer schon gewesen. Und er würde es bis zum letzten Atemzug bleiben. Deshalb hatte er auch das Wagnis der Übersetzung auf sich genommen. Um seiner Vision zu dienen - Menschen, die zu Gott so redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war!
»Gelobet seist du, mein Herr,
für jene, die verzeihen um deiner Liebe willen
und Krankheit ertragen und Not.
Selig, die ausharren in Frieden,
denn du, Höchster, wirst sie einst krönen.«
Konnte er wirklich verzeihen? War er bereit, zu vergessen, was hinter ihm lag, und aus reinem Herzen denen zu vergeben, die ihm so übel mitgespielt hatten? Männern wie Tilman von Koslar, Wilhelmus Weymse, Henrik de Speculo, Werner Pixide, Konrad von Aachen und allen anderen voran Johannes Kustos, seinem früheren Adlatus, der ihn bitterer als jeder andere enttäuscht hatte?
Bruno de Berck lauschte in sich hinein. Alles in ihm war ruhig und klar und still. Er konnte , dachte er jubelnd, er war nicht länger an die Vergangenheit gebunden. Es gab eine Zukunft, weit über ein einzelnes Menschendasein hinaus, egal, wie lange er noch leben würde. In seiner Nähe wuchs ein neuer Johannes heran, frommer als der andere und klüger, begeisterungsfähig dazu, dessen Herz rein war und dessen Seele durstig. Keiner trug den Namen des Lieblingsjüngers Jesu mit mehr Recht! Er musste nur in seine Augen schauen, um zu erkennen, welches Feuer in ihm loderte! Lief alles wunschgemäß, würde er bald schon sein Schüler werden, bestimmt dazu, die frohe Kenntnis von der Herrlichkeit Gottes in die weite Welt zu tragen. »Gehe hin und stelle mein
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