Pforten der Nacht
Haus wieder her, das, wie du siehst, zerfällt!« Die Botschaft, die der verehrte Ordensgründer damals von Gott erhalten hatte, war heute gültiger denn je.
Jetzt begann auch Bruno in seinem kleinen Zimmer zu singen, mit seinem tiefen, tragenden Bariton, und er tat es nicht auf Deutsch, sondern in der Originalsprache des Heiligen, jenem unverwechselbaren Gemisch aus Latein und toskanischem Dialekt, das er während seines langjährigen Aufenthalts in Assisi kennen und lieben gelernt hatte.
»Laudato si, mi Signore,
per sora nostro morto corporale,
da la quale nullu homo
vivente po’ skappare.
Guai a quelli
ke morranno ne le peccata mortali,
beati quelli ke trovarà
ne le tue sanctissime voluntati,
ka la morte secunda nol farà male.«
Welch großes, welch überwältigendes Finale!
Bruno de Berck beugte das Knie vor dem einfachen Holzkreuz in der Sakristei und senkte sein Haupt mit dem silbernen Haarkranz, für den nicht länger die vorgeschriebene Tonsur, sondern einzig und allein der unaufhaltsame Lauf der Zeit zuständig war. Er war froh, nicht mehr jung und ehrgeizig zu sein, nicht mehr alles zu erstreben, sondern sich getrost dem Willen Gottes zu unterwerfen. Wer war wirklich frei?
Nur der, der Gottes Sklave war.
Alles war gut, genau so, wie es war. Geborgen fühlte er sich, aufgehoben im Herrn, beinahe glücklich. Wie von selbst kamen die Worte über seine Lippen, die er jeden Morgen nach dem Aufwachen sprach und jeden Abend, bevor er in der kargen Zelle einschlief.
»Lobet und preiset meinen Herrn
und dankt und dient ihm
mit großer Demut.
Amen. Amen. Amen!!!«
»Sie schläft. Endlich! Sieh nur, wie ruhig und gleichmäßig sie atmet.« Zärtlich strich Recha ihrer Nichte über das Haar, das sich vom langen Liegen verfilzt anfühlte, obwohl sie es Tag für Tag hingebungsvoll gebürstet hatte. »Keine Krämpfe mehr. Seit Stunden schon! Ich kann es kaum glauben! Lass uns in die Küche gehen, Jakub. Wenn ich nicht bald etwas in den Magen kriege, kippe ich noch um.«
»Essen? Unmöglich! Du willst sie doch jetzt nicht etwa allein lassen?« Jakub ben Baruchs Gesicht war eingefallen vor Müdigkeit und Sorge, die Schatten unter seinen Augen beinahe violett, aber Recha ließ ihm keine Ruhe. Mit seinen eckigen Schultern sah er ständig aus, als ob er den Kopf einzog.
»Hilft es ihr, wenn du auch noch krank wirst? Oder ich? Dann können wir uns gleich alle zusammen hier ins Bett legen und darauf warten, dass Esra uns verhungern lässt!« Sie redete schnell weiter, bevor ihr Mann etwas einwenden konnte. »Ja, ja, ich weiß, weil ich ihn so verwöhnt habe! Natürlich bin ich allein daran schuld. Wie immer in dieser Familie, wo scheinbar unausweichlich alles an mir hängen bleibt!« Sie klang nicht, als sei sie unzufrieden damit. Ein bisschen schimpfen musste sie trotzdem noch. »Aber wer wollte denn seit jeher mit aller Macht einen Gelehrten aus ihm machen?«
Sie schniefte erleichtert und plapperte weiter, während sie Jakub mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer schob. Wenigstens leistete er keinen Widerstand, auch nicht, als sie ihm in der Küche Teller und Brot hinschob und von der dicken Kohlsuppe austeilte, die in einem Topf auf dem Herd stand. Wie ihm das dünne, graue Haar zerzaust um den Kopf stand! Ohne sie würde er sich niemals kämmen und Tag für Tag in den gleichen zerknitterten Kleidern herumlaufen. Der Anblick rührte und ängstigte sie zugleich, und sie wandte sich rasch ab. Erst nach einer Weile kehrte sie an den Tisch zurück und begann selbst zu löffeln, zügig und konzentriert, wie bei allem, was sie zu sich nahm. Recha spürte, wie die Wärme langsam in ihren Körper zurückkehrte. Schnell und geschickt legte sie Holz nach, vergewisserte sich, dass frisches Wasser in der Karaffe war. Am liebsten hätte sie ihren erschöpften Mann wie ein Kind gefüttert, aber natürlich hätte Jakub dies niemals zugelassen. Das Haus - ein Tempel. Der Tisch - ein Altar. Diese Forderungen des Talmuds waren keine leeren Phrasen für sie, sondern gelebtes Leben. In Rechas Küche ging das Feuer niemals aus. Selbst am Sabbat verstand sie die Kunst, es zu hüten und doch nicht gegen die heiligen alten Bräuche zu verstoßen.
Zu seiner eigenen Verblüffung war Jakub wirklich hungrig. Er vertilgte sogar noch einen zweiten Teller Suppe, wischte die Reste mit Brot sorgfältig aus und gönnte sich zum Nachtisch ein großes Stück von dem süßen Gebäck, das keine andere wie sie zuzubereiten
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