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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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zögerte, aber blieb bei der Wahrheit. »Es könnte sein, dass ein Bein kürzer bleibt und ihre Muskeln kraftlos werden.«
    »Sie wird hinken? Ein hübsches Mädchen wie sie, dem alle Möglichkeiten offen stehen?«, waren ihre atemlosen Rückfragen gewesen. Nachtschwarze Augen, seidiges Haar und zarte Glieder. Augen wie Gewitterblumen. Eine Stimme, sanft und hell. Jetzt schon schöner, als Miriam, ihre Mutter, je gewesen war. Ihre kleine Nichte war so anmutig, dass die Leute auf der Straße stehen blieben, um ihr nachzuschauen. Nicht auszudenken, dass sie fortan ein Krüppel sein sollte!
    Salomon ben Daniels Stimme wurde streng, als er weitersprach.
    »Sie lebt, Recha, sie hat es überstanden! Was ist dagegen ein kurzes Bein?« Nach einem Blick auf ihre entsetzte Miene fand er schnell wieder zu seinem besonnenen Ton zurück. »Voraussetzung für die Heilung ist allerdings absolute Ruhe. Keine Aufregung, keine Bewegung. Lea muss im Bett bleiben, geschont werden und die spezielle Diät erhalten, die ich dir aufgeschrieben habe. Und zwar peinlich genau! Verstanden? Ich komme übermorgen wieder, um nach ihr zu sehen.«
    Nicken. Aber in Rechas Kopf drehte sich alles wie in einem Kaleidoskop. Wer würde schon eine Lahme zur Frau nehmen? Vielleicht war Leas Schicksal damit schon kurz nach ihrem elften Geburtstag besiegelt. »Du hast neulich gewisse Übungen erwähnt«, begann sie zaghaft, »mit denen kranke Glieder wieder gestreckt werden. Vielleicht könnten wir bei Lea …«
    »Nicht bevor alles abgeklungen ist - restlos! Und auch dann nur unter meiner Aufsicht. Es ist eine Möglichkeit, nicht mehr. Die Heilkunst bewegt sich auf diesem Gebiet noch auf dünnem Eis. Geduld, meine Liebe! Wir sollten Gott von ganzem Herzen danken, dass wir beide heute hier stehen und überhaupt wagen, uns über Leas Zukunft Gedanken zu machen. Viele Kinder überleben diese Krankheit nicht. Deren Eltern würden vermutlich alles dafür geben, um an eurer Stelle zu sein.«
    Er hatte recht! Wie sehr hatten Jakub und sie gebangt, das Kind zu verlieren. Das Fieber, dieses fürchterliche Übergeben, das nicht aufhören wollte, das Aufbäumen, als sei ein Dämon in den zarten Körper gefahren. Nach ein paar Stunden das Bettzeug vollständig durchgeschwitzt. Und abermals hatten sie die Tasse mit dem Fencheltee an die rissigen Lippen gesetzt und mit allen Mitteln versucht, ihr wenigstens ein paar Tropfen Flüssigkeit einzuflößen. Heute hatte Lea zum ersten Mal wieder nach Nahrung verlangt und die heiße Hühnerbrühe bis zur Neige ausgetrunken. Es ging aufwärts. Nun gab es nur noch Hoffen und Beten. Und Gottes unergründlichen Ratschluss.
    »Ich denke, ich schaue noch kurz zur Synagoge rüber«, sagte Jakub. »Es wird Zeit, dass ich wieder an meinen Platz zurückkehre. Nicht mehr lange bis Chanukka. Und noch eine Menge verschiedenster Dinge vorzubereiten. Ich bin mit allem weit hinterher.«
    »Jetzt? Das ist doch nicht dein Ernst! Es ist tiefe Nacht, und es schneit. Wieso wartest du nicht lieber bis morgen und schläfst dich erst einmal richtig aus?«
    Trotz seiner Müdigkeit musste er beinahe lächeln. Keine verstand es so zu übertreiben wie seine üppige, stets überbesorgte Taube! »Es ist doch noch nicht einmal richtig Abend«, sagte er und lauschte den Glocken der nahe gelegenen Pfarrkirche von St. Alban, die gerade sieben schlugen. Die erste Kirche hier in der Stadt, die mit einem Chronometer hoch oben am Glockenturm protzte. Aber er hatte von Glaubensbrüdern gehört, dass es auch in anderen Städten immer mehr wurden. Eigentlich schätzte er ihren Klang, der sich ohne großes Federlesen in seinen Tagesablauf mischte, nicht besonders. Inzwischen jedoch hatte er gelernt, sich an ihrem lauten Läuten zu orientieren. »Außerdem schneit es nicht mehr, sondern es regnet.«
    »Ja, und zwar in Strömen, sodass man nicht einmal einen Hund auf die Straße jagen würde! Wahrscheinlich steht die ganze Rheinvorstadt binnen Stunden unter Wasser, und ich wette mit dir, wir können spätestens im Morgengrauen damit anfangen, den Keller auszuräumen. Vielleicht erinnerst du dich noch, wie ich mir mit den schweren Kisten beim letzten Mal den Rücken verrissen habe und anschließend tagelang nur noch gebeugt wie ein altes Weiblein umherhumpeln konnte, nur weil du wie immer in der Synagoge unabkömmlich warst! Jakub, hör mal, ich möchte wirklich nicht, dass du heute Abend …«
    Sie brach ab. Es war sinnlos. So mager und knochig ihr Mann auch war, er besaß

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