Phantom der Lüste
bewegte die Vorhänge. Der Balkon! Natürlich.
„Jean, bitte lass uns miteinander reden.“ Sie raffte ihr Nachthemd und eilte in die kühle Nacht hinaus, doch zu ihrem Schrecken war der Balkon leer. Sie entdeckte verknüpfte Laken, deren eines Ende um eine Säule geknotet war und deren anderes in die Tiefe hinabhing.
Vorsichtig beugte sie sich über die Brüstung und schaute in den Garten hinunter. Dort bemerkte sie eine Bewegung. „Jean?“, rief sie aus Leibeskräften.
Der Schatten verschwand zwischen den Büschen, die wild raschelten. Wut machte sich in ihr breit. Es schmerzte, weil er vor ihr floh, doch ihren Bruder liebte.
„Er ist verheiratet, Jean! Er hat eine Frau und Kinder“, brüllte sie in die Nacht hinaus. Wahrscheinlich hatte er sie ohnehin nicht gehört, aber das war egal. Alles war egal.
Jean rannte durch die Dunkelheit. Er hörte das lautstarke Pochen seines Herzens und das Rauschen seines Blutes in seinen Ohren. Allmählich ging ihm die Puste aus. Unbemerkt war er an den Wachen seines Vaters vorbeigeschlichen und hechtete nun durch die Sträucher und das Geäst des Waldes, der l’Aurore von St. Marie-Etienne, der nächstgelegenen Stadt, trennte. Tränen verschleierten seine Sicht. Francoises Worte hatten sein Herz zerrissen. Sebastien verheiratet, ein glücklicher Ehemann und Vater. Das durfte nicht wahr sein! Er war an der Front! Er hatte keine Familie.
Und was, wenn er längst nach Frankreich zurückgekehrt war? Ohne sich bei Jean zu melden? Das tat weh. Jean hatte den Tag seiner Rückkehr so sehr herbeigesehnt. Und nun musste er erfahren, dass er Sebastien gleichgültig geworden war. In dessen Leben gab es keinen Platz mehr für ihn.
Kurz zögerte er, überlegte, ob er umkehren und Francoise heiraten sollte, so wie es alle von ihm erwarteten.
Zumindest bestünde dann die Chance, Sebastien hin und wieder zu sehen. Mehr durfte er nicht erwarten. Aber vielleicht genügte ihm das. Zumindest für eine gewisse Zeit.
Doch der Gedanke an eine Heirat, den goldenen Käfig, machte ihn so nervös, dass sein Herz gleich mehrere Male hintereinander fehlschlug und er ins Straucheln geriet, dabei fast über eine knorrige Wurzel stolperte, die sich vor ihm auftat. Zu diesem Zeitpunkt war er längst vom Weg abgekommen und hatte die Orientierung verloren.
Nein, er konnte unmöglich zurück. Er konnte sie nicht heiraten. Weder sie noch sonst irgendeine Frau. Der Gedanke an das Leben, das seine Eltern führten, ängstigte ihn. Er hatte früh gewusst, dass er dafür nicht geschaffen war.
Erschöpft lehnte er sich an einen Baum. Es war inzwischen stockfinster. Nicht einmal der Mond schien am Himmel. Jean blickte sich um, doch er konnte kaum mehr erkennen als die Schemen der Bäume zu seiner Rechten und zu seiner Linken, vor und hinter ihm. Er musste raten, welcher Weg nach St. Marie-Etienne führte.
Das konnte ja heiter werden. Er ärgerte sich darüber, keinen Proviant mitgenommen zu haben, aber sein Aufbruch war so spontan gewesen, dass er keine Zeit gehabt hatte, sich etwas zu essen zu organisieren. Zumindest hatte er frische Kleidung und etwas Geld dabei. Sein Magen knurrte. Der Nachtwind strich um seinen Körper, hüllte ihn in seinen Atem ein und Jean fing vor Kälte zu zittern an.
In der Ferne hörte er den Ruf eines Käuzchens und in unmittelbarer Nähe raschelte ein Busch. Jean zuckte zusammen. Angespannt hielt er den Atem an. Seine Flucht war so überhastet, dass er nicht an die Gefahren des Waldes bei Nacht gedacht hatte. Francoises Worte hallten in seinen Ohren wider.
Das Phantom lebt in den Wäldern von Gavaine
. Seine todbringenden Hände hatten schon so manchen Wanderer ins Verderben gestürzt.
Jean schüttelte den Kopf und pfiff leise durch die Zähne. Das waren alles Mythen. Er glaubte längst nicht mehr an Geistergeschichten und Ammenmärchen. Und doch gehörte er auch zu denen, die den Wald nachts normalerweise mieden.
Er schluckte.
Stehenbleiben war die schlechteste Option. Er musste weiter, sich bewegen, wenn er nicht erfrieren wollte. Der Erfrierungstod war jedenfalls deutlich wahrscheinlicher als durch die Hände eines ominösen Phantoms zu sterben.
Entschlossen straffte er die Schultern und machte einen Schritt nach vorn, da trat sein Stiefel ins Leere. Erschrocken versuchte er zurückzurudern, aber es war zu spät. Mit einem Schrei stürzte er den Hügel hinunter. Sein Koffer wirbeltedurch die Luft, öffnete sich im Flug und als Jean auf dem Grund aufschlug, segelten
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