Phantom der Tiefe
...«, er schöpfte Atem wie ein Ertrinkender, »... du, Kemer, mein Junge, mußt mit ihnen gehen! Es ist eine einmalige Chance . Anders kann ich es nicht deuten! - Ich selbst bin zu schwach. Ich könnte den Weg kein zweites Mal gehen. Aber du .«
»Kein - zweites Mal?«
Kemer versuchte das Bild aus seinem Kopf zu vertreiben, das Bild, das er gerade gesehen hatte: Dutzende Menschen, die ihre ursprüngliche Absicht, zu fliehen, einfach fallengelassen und statt dessen begonnen hatten, in das Gebirge vorzustoßen, das zum Symbol ihrer alljährlichen Zusammenkunft und ihres Glaubens geworden war.
Aber sie waren für einen Aufstieg gar nicht gerüstet!
Und - was wollten sie überhaupt dort oben? Hatte Akhan sie dazu überredet?
Unsinn, dachte Kemer, der sich seine erst Minuten zurückliegende Begegnung mit Akhan in Erinnerung rief. Der Organisator der Reise war ebenso von den Ereignissen dieser Nacht überrollt worden wie jeder andere auch. Das, was hier geschah, war nicht Teil irgendeines Programms.
»Ich war als junger Mann dort oben«, schnitt Milas' heisere Stimme in Kemers Gedanken. »Damals war ich etwas älter als du - und das, was du in der Hand hältst, brachte ich von dort oben mit .«
Irgendwo in Kemers Brust war ein kleiner kalter Knoten, der Ke-mer unvermittelt an den Tod erinnerte.
An seinen Tod. Daran, daß auch er sterben mußte - nicht irgendwann in noch ferner Zukunft, sondern vielleicht schon in dieser Nacht .
»Großvater, wovon redest du?«
»Mach es auf und schau es dir an - und dann geh! Folge ihnen! Wer anders als Er könnte sie rufen - wessen Ruf sonst als dem Seinen würden sie folgen ...?«
Kemer lauschte ein letztes Mal in sich hinein. Auch er spürte . die Lockung.
Den verführerischen Drang, alles stehen und liegen zu lassen und dem Magneten nachzugeben, der ihn zu sich zog .
Kemer schlug die erste Lage Tuch zurück - dann die zweite. Immer fahriger wickelte er den Gegenstand aus dem Stoff, bis er endlich unverhüllt vor ihm lag. Karbidlicht streichelte darüber.
Eine Sekunde lang war Kemer maßlos enttäuscht. Er hatte anderes erwartet als ein einfaches Stück Fels.
Doch dann bemerkte er die Maserung des Steins - und machte sich bewußt, was er längst unbewußt registriert hatte: daß das Gewicht dieses Dings ungewöhnlich war.
»Sieh genau hin«, riet Milas, als könnte er die Gedanken hinter der Stirn seines Enkels lesen. »Es ist kein Stein. - Zumindest war es das nicht immer .«
Kein Stein.
Tatsächlich, es sah eher aus wie .
»Holz?« Seine eigene Stimme kam ihm fremd und brüchig vor, als sie die Frage formulierte.
»Holz, ja«, bestätigte Milas. Und fügte mit Grabesstimme hinzu: »Aber ein ganz besonderes Stück Holz ...!«
Und dann begann er Kemer mit hastig hervorgestoßenen Worten -als wüßte er, daß Zeit das rarste Gut auf Erden für ihn geworden war - zu erzählen, was er siebzig Jahre zuvor, im Sommer 1927, dort oben im Berg entdeckt hatte. Und daß ihn diese Entdeckung nicht wieder losgelassen hatte, obwohl - oder gerade weil - er das, was seine Augen gesehen und seine Finger gefühlt hatten, nie einer Menschenseele anvertraut hatte .
*
Zur gleichen Zeit
Der Hohe Mann starrte auf den Grund des Kelchs, wo schwarzes Blut in Jahrtausenden eine einzigartige Patina hinterlassen hatte. Eine hauchdünne Schicht, in der sich jetzt die Züge eines Mächtigen spiegelten - des Ersten Hüters, der das Geschlecht der Vampire vor mehr als viertausend Jahren gegründet hatte: die Alte Rasse .
Sie war in ihrer Art nicht identisch mit den Vampiren, die heute aus dem Geheimen über die Menschheit herrschten. Die Kelchkinder, das war nichts anderes als die Armee, die mit Anbruch der Hohen Zeit an jedem Punkt der Erde dafür sorgen sollte, daß der Widerstand der Menschen im Keim erstickt wurde - oder bereits erstickt worden war.
Im Keim . Anums Gesicht blieb unbewegt, als er des Plans der Mutter gedachte. Liliths 1 Plan, die ihren Kindern nicht nur Opferschlange und Agrippa vermacht hatte, sondern auch ein Instrument, um eine schlagkräftige, eine unbesiegbare Armee aus schwachem Menschengeblüt zu formen: den Lilienkelch. Jenes Unheiligtum, mit dem nicht allein Anums Geist und Verstand, sondern auch die Hände, die ihn hielten, die Augen, die ihn sahen, Zwiesprache hielten.
Und sich empörten!
Der Gral der Hüter war entweiht, war vergiftet worden von . Anum suchte nach Worten, die ihm angemessen erschienen für das, was dem magischen Gefäß angetan worden
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