Pippi Langstrumpf
vergessen, daß ich ihn neulich gebraucht hatte, um Holz reinzutragen“, sagte sie und drückte den Hut über die Augen. „Bin ich nicht fein?“
Das konnten Thomas und Annika nicht leugnen. Sie hatte die Augenbrauen mit Kohle schwarz gefärbt und Mund und Nägel mit roter Farbe bemalt. Und dann hatte sie ein feines, langes Ballkleid angezogen. Das war ausgeschnitten, und ein rotes Mieder guckte hervor. Unter dem Rocksaum sah man ihre großen schwarzen Schuhe, und die waren noch feiner als sonst, denn sie hatte die grünen Schleifen hineingebunden, die sie nur zu feierlichen Gelegenheiten benutzte.
„Ich finde, daß man wie eine ,wirklich feine Dame‘ aussehen soll, wenn man zum Jahrmarkt geht“, sagte sie und trippelte auf der Straße so elegant daher, wie es mit so großen Schuhen überhaupt möglich war. Sie hob den Rocksaum und sagte in regelmäßigen Abständen und mit einer Stimme, die ganz anders war als sonst:
„Wunderbar! Bezaubernd!“
„Was findest du so bezaubernd?“ fragte Thomas.
„Mich“, sagte Pippi zufrieden.
Thomas und Annika fanden, daß am Jahrmarktstag alles wunderbar war. Es war wunderbar, sich mit den Leuten auf den Straßen zu drängen und von einem Stand zum anderen zu gehen und alle die Sachen zu beschauen, die ausgebreitet dalagen. Pippi kaufte für Annika ein rotes Seidenhalstuch als Jahrmarktsgeschenk, und Thomas bekam eine Schirmmütze von einer Sorte, die er schon immer so gern gehabt hätte, die seine Mutter ihm aber nicht kaufen wollte. An einem anderen 141
Stand kaufte Pippi zwei Glasuhren, die ganz mit kleinen rosa und weißen Zuckerpillen gefüllt waren.
„Oh, wie nett du bist, Pippi“, sagte Annika und drückte ihre Uhr an sich.
„O ja, wunderbar, bezaubernd“, sagte Pippi und hob mit großem Genuß ihren Rocksaum.
Zum Zollhaus hinunter floß ein Strom von Menschen. Pippi, Thomas und Annika gingen mit.
„Was für ein Leben!“ rief Thomas begeistert. Die Leierkästen spielten, das Karussell schnurrte, die Menschen schrien und lachten. Pfeilwerfen und Porzellanzerschlagen waren in vollem Gang. An den Schießbuden drängte man sich, um seine Geschicklichkeit im Schießen zu zeigen.
„Das möchte ich gern etwas näher betrachten“, sagte Pippi und zog Thomas und Annika mit zu einem Schießstand. Es waren gerade keine Leute an diesem Stand, und die Dame, die Gewehre austeilte und Geld entgegennahm, sah recht mißvergnügt aus. Drei Kinder – das waren ja keine richtigen Kunden. Sie nahm nicht die geringste Notiz von ihnen. Pippi schaute interessiert auf die Zielscheibe. Die bestand aus einem großen, alten Mann aus Pappe in einem blauen Mantel und mit einem kugelrunden Gesicht. Mitten im Gesicht hatte er eine sehr rote Nase. Die war es, die man treffen sollte. Wenn es einem nicht gelang, die Nase zu treffen, so mußte man wenigstens versuchen, ganz in die Nähe zu treffen. Schüsse, die nicht ins Gesicht trafen, rechneten als danebengegangen.
Schließlich wurde die Dame ärgerlich, weil die Kinder dastanden. Sie wollte Kunden haben, die schießen konnten und bezahlten.
„Steht ihr immer noch hier?“ fragte sie böse.
„Nee“, sagte Pippi ernsthaft, „wir sitzen auf dem Marktplatz und knacken Nüsse.“
„Was steht ihr hier und glotzt?“ fragte die Dame noch böser.
„Wartet ihr darauf, daß jemand kommt und schießt?“
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„Nee“, sagte Pippi, „wir warten darauf, daß du anfängst, Purzelbäume zu schlagen.“
Gerade da kam ein Kunde. Ein feiner Herr mit einer goldenen Kette auf dem Bauch. Er nahm ein Gewehr und wog es in der Hand.
„Ob man eine Serie schießen soll?“ sagte er, um zu zeigen, daß er etwas von der Sache verstand.
Er blickte sich um, weil er sehen wollte, ob er Publikum hatte. Aber es war niemand weiter da als Pippi, Thomas und Annika.
„Seht her, Kinder“, sagte er, „jetzt könnt ihr einen ersten Einblick in die Schießkunst bekommen. So macht man das!“
Er hob das Gewehr an die Wange. Der erste Schuß ging ab –
daneben! Der zweite Schuß – auch daneben. Der dritte und vierte – daneben und daneben. Der fünfte Schuß traf den Pappemann ganz unten am Kinn.
„Ein schlechtes Gewehr“, sagte der feine Herr ärgerlich und warf die Waffe fort. Pippi nahm sie und lud sie.
„Oh, was der Onkel alles kann!“ sagte sie. „Das nächste Mal mache ich es genauso, wie der Onkel es uns gezeigt hat. Und nicht so!“
Pang, pang, pang, pang, pang! Fünf Schuß hatten den Pappemann mitten auf die Nase
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