Pippi Langstrumpf
Kiste zurück und stürzte zu Pippi hin, um zu versuchen, sie vor einem sicheren Tod zu retten. Pippis Schlange wurde durch den Lärm aufgeschreckt und wütend und konnte nicht verstehen, warum sie um den Hals eines kleinen rothaarigen Mädchens hängen sollte anstatt um Fräulein Paulas, an den sie gewöhnt war. Sie beschloß, dem kleinen rothaarigen Mädchen einen Denkzettel zu geben, und sie zog ihren Körper in einem Griff zusammen, der einen Ochsen zerquetscht hätte.
„Versuch nicht diesen alten Trick mit mir“, sagte Pippi. „Ich habe größere Schlangen als die hier gesehen, das kannst du mir glauben. In Vorderindien.“
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Sie machte die Schlange los und legte sie in die Kiste zurück.
Thomas und Annika waren ganz bleich geworden.
„Das war auch eine Boaschlange“, sagte Pippi und machte das eine ihrer Strumpfbänder fest, das abgegangen war. „Das hatte ich mir gleich gedacht.“
Fräulein Paula schimpfte eine ganze Weile in irgendeiner fremden Sprache. Und alle Menschen in der Menagerie atmeten erleichtert auf. Aber das hatten sie zu früh getan, denn es war offenbar ein Tag, an dem viel passieren sollte.
Hinterher wußte niemand, wie es zugegangen war. Die Tiger waren mit großen, roten Fleischstücken gefüttert worden. Und der Tierwärter sagte danach, daß er die Tür bestimmt richtig geschlossen hätte. Aber nach einer Weile hörte man einen furchtbaren Schrei:
„Ein Tiger ist los!“
Und so war es. Da lag er zusammengekrümmt vor dem Käfig, das gelbgestreifte Biest, zum Sprung bereit. Die Menschen flohen nach allen Richtungen. Aber ein kleines Mädchen stand, in eine Ecke gedrückt, ganz in der Nähe des Tigerkäfigs.
„Bleib ganz still stehen!“ riefen die Leute ihr zu. Sie hofften, der Tiger würde sie in Ruhe lassen, wenn sie sich nicht rührte.
„Was sollen wir bloß anfangen?“ sagten die Leute und rangen die Hände.
„Lauft nach der Polizei“, schlug einer vor.
„Alarmiert die Feuerwehr“, sagte ein anderer.
„Holt Pippi Langstrumpf“, sagte Pippi und trat vor. Sie hockte sich ein paar Meter von dem Tiger entfernt nieder und fing an ihn zu locken:
„Kss, kss, kss!“
Der Tiger ließ ein grauenhaftes Knurren hören und zeigte seine furchtbaren Zähne. Pippi sah ihn mißbilligend an und hob warnend den Zeigefinger.
„Wenn du mich beißt, dann beiße ich dich wieder, darauf 149
kannst du dich verlassen“, sagte sie.
Da machte der Tiger einen Sprung und warf sich über sie.
„Na, was soll das heißen? Verstehst du keinen Spaß?“ sagte Pippi und schleuderte ihn weg.
Mit einem furchtbaren Fauchen, bei dem alle Menschen erstarrten, warf sich der Tiger zum zweiten Male über Pippi.
Man konnte deutlich sehen, daß er ihr jetzt die Kehle durchbeißen wollte.
„Wie du willst“, sagte Pippi. „Aber denk daran, daß du es warst, der angefangen hat!“
Mit der einen Hand preßte sie die Kiefer des Tigers zusammen, und dann trug sie ihn, zärtlich an sich gedrückt, in den Käfig zurück, während sie ein kleines Lied summte:
„Habt ihr meine kleine Katze gesehn, Katze gesehn, Katze gesehn?“
Und wieder atmeten die Menschen erleichtert auf, und das kleine Mädchen, das sich aus Angst in eine Ecke gedrückt hatte, lief zu seiner Mutter und sagte, es wolle niemals mehr in eine Menagerie gehen.
Der Tiger hatte den unteren Teil von Pippis Kleid zerrissen.
Pippi besah sich den Schaden und sagte:
„Hat jemand eine Schere?“
Fräulein Paula hatte eine, und jetzt war sie auch nicht mehr böse auf Pippi.
„Hier hast du eine Schere, du mutiges kleines Mädchen“, sagte sie. Und Pippi schnitt das Kleid ein ganzes Stück bis über die Knie ab.
„So“, sagte sie zufrieden. „Jetzt bin ich noch feiner. Oben und unten ausgeschnitten, so was Feines gibt’s so bald nicht wieder.“
Sie spazierte dermaßen elegant davon, daß die Knie bei jedem Schritt aneinander schlugen.
„Bezaubernd“, sagte sie wieder.
Man hätte wohl annehmen können, daß es nun endlich Ruhe 150
geben würde auf dem Jahrmarkt. Aber Jahrmärkte sind eben niemals so richtig ruhig, und es zeigte sich, daß die Leute auch dieses Mal zu früh erleichtert aufgeatmet hatten.
In der kleinen, kleinen Stadt gab es einen Landstreicher, einen unerhört starken Kerl. Alle Kinder hatten Angst vor ihm.
Und übrigens nicht nur die Kinder. Alle hatten Angst vor ihm.
Sogar die Polizei machte Umwege, wenn der Landstreicher Laban auf dem Kriegspfad war. Böse war er im allgemeinen nicht. Nur
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