Piss off! Ein Engel zum Fürchten (German Edition)
und Haushalt, unterstützten als Putzfrauen oder Kassiererinnen an den Supermarktkassen ihre Familien, während die Kinder sich selbst überlassen waren, Banden gründeten und gierig nach einem Leben hungerten, dass ihnen schon jetzt wie ein Alptraum erschien. Der Borsigplatz im Osten und der Hafen im Westen markierten die äußeren Punkte einer in sich geschlossenen Welt, deren Bewohner diese Grenze zwar spürten, aber so schwach und flüchtig, dass sie in einem Eimer schwimmenden Kaulquappen glichen. Was sich jenseits des Eimers befand, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Paul schob den leeren Teller zur Seite und widmete sich nun ganz seinem Heft. Jemand hatte mit schneller Schrift eine Zahlenkolonne auf dem gelben Grund der Titelseite notiert, die Lottozahlen der vergangenen Woche, und die Seiten des Heftes bei der Lektüre um die geklammerte Seitenkante gebogen, so dass das Heft jetzt einen dicken, runden Wulst aufwies – in Pauls Augen ein schweres Vergehen. Sowenig er mit Spielzeug anzufangen wusste, soviel bedeuteten ihm die bunten Bilderfolgen, in denen grell kostümierte Superhelden phantastische Schurken bekämpften, deren Ziel es war, die Erde zu beherrschen. Pauls Favorit war Spiderman, genannt die Spinne – die endlose Geschichte des brillengesichtigen Physikstudenten Peter Parker, der durch den Biss einer radioaktiv verseuchten Spinne die Fähigkeit erhielt, an Decken und Wänden zu laufen. Neben der Spinne gab es unzählige andere, die ihre Kräfte allwöchentlich zum Wohle der Menschheit in den Dienst der Verbrechensbekämpfung stellten – die X-Männer, die Rächer, den Dämon, Thor, die Fantastischen Vier ...
Paul wachte sorgsam über jedes der Hefte und führte einen Kleinkrieg gegen Georg, seinen Onkel, der, als jüngster der fünf Söhne seiner Großmutter, noch zu Hause wohnte und sich immer wieder an den Comics verging. Die mit Kugelschreiber notierten Lottozahlen auf dem Cover des Heftes waren jedenfalls sein Werk, da war sich Paul sicher. Außerdem las Onkel Georg seine Comics beim Essen, und um sie in der linken zu halten, während er mit der rechten Hand das Essen in sich hineinschaufelte, bog er, sofern Paul nicht da war, um es zu verhindern, die Seiten brutal auf den Rücken der Hefte. Kein Zweifel, Onkel Georg war ein hoffnungsloser Fall.
Paul warf das für seine Sammlung wertlos gewordene Heft auf das Sofa zurück.
„Georg hat schon wieder eines meiner Hefte zerstört!”, sagte er.
Hilflos zuckte seine Oma mit den Schultern. „ Was soll ich machen? Ich hab es ihm schon hundertmal gesagt, dass er sie in Ruhe lassen soll. Aber er hört ja nicht auf mich.”
„Die Hefte gehören mir”, erklärte Paul. „Er weiß genau, dass ich sie sammle. Also soll er gefälligst seine Finger davon lassen. Das ist das dritte Heft diese Woche, das ich abschreiben kann! Eins hat er mit auf die Arbeit genommen und nicht zurückgebracht, eins war voller Bratensoße und auf dem hier ...” – Paul zeigte mit dem Finger auf das auf dem Sofa liegende Heft, als wäre es ein Hund, den sein Onkel mutwillig mit dem Auto überfahren hatte – „... hat er Lottozahlen notiert! Er soll endlich aufhören, sich an meinen Sachen zu vergreifen.”
„Lotto”, sagte seine Oma, plötzlich hellwach. „Ich darf nicht vergessen, den Schein fertigzumachen. Erinner’ mich dran.”
Paul stand wortlos auf, holte seinen Tornister und ging in sein Zimmer. Er stellte sich Georg vor, in einem Museum, ein kleines Kofferradio am Ohr. Der Radiosprecher verliest soeben die Lottozahlen, und weil Georg kein Blatt Papier hat, um die Zahlen aufzuschreiben, zückt er einen billigen Kugelschreiber und notiert sie auf dem Gemälde, das an der Wand hängt. Onkel Georg brächte das fertig. Arglos würde er dem entrüsteten Museumswärter erklären: „Was regen Sie sich denn so auf?!Das ist doch nur ein Bild!”
Auf dem Bett mit der karierten Tagesdecke liegend, dachte Paul an seinen Vater. Er und seine Mutter hatten sich scheiden lassen, als Paul drei Jahre alt war. Aber auch vorher hatte er bereits die meiste Zeit bei seiner Oma verbracht, ihr erster, wohlgehüteter Enkel, der bei ihr alle Freiheiten hatte.
Das Bild seiner Mutter stieg vor Paul auf, mehr die gedankliche Reproduktion eines Fotos als eine echte Erinnerung. Sie war blond und hatte ein rundes, weiches Gesicht. Nur selten wurde im Hause seiner Oma über sie gesprochen. Was er über seine Mutter wusste, ließ sich daher in zwei kurzen Sätzen
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