Piss off! Ein Engel zum Fürchten (German Edition)
Ich hatte das Gefühl, Dinge begannen, sich in ihr Gegenteil zu verkehren, und niemand kriegte es mit. Was kam als Nächstes? Dass sie von einem Toten behaupteten, er würde lediglich an Vitalschwäche leiden?
„Scheiße, Zack!”, stieß ich heiser hervor. „Was haben die Schweine mit dir gemacht?”
Statt einer Antwort war nur das Geräusch der Flüssigkeit aus dem Tropf zu vernehmen, die durch die Schläuche in Zacks malträtierten Körper sickerte.Die Tür zu Zacks Zimmer glitt auf und eine andere Schwester bedeutete mir, ich müsse jetzt gehen. Auf dem Gang, der nach Sterben und Desinfektionsmitteln roch, fiel es mir schwer, mein Zittern unter Kontrolle zu kriegen. Ich fragte die Schwester: „Wie lange wird es dauern?”
„Bis er aus dem Koma erwacht? Das kann man nie sagen. Vielleicht morgen, vielleicht in einer Woche. Aber es gibt auch Fälle, da dauert es länger. Alles ist möglich.”
„Soll das heißen, Sie haben vor, ihn da einfach liegen zu lassen, und warten bloß ab, bis von selbst was passiert? Und möglicherweise, mit etwas Glück, öffnet er eines schönen Tages, vielleicht in einer Woche, vielleicht in zehn Jahren, die Augen und alles ist gut?”
Meine Stimme schlingerte, mir war schwindelig, in meiner Nase raste ein pochender Schmerz.
„Beruhigen Sie sich!”, hörte ich die Schwester sagen. „Ihr Freund ist bei uns in guten Händen. Aber im Moment können wir, außer abzuwarten, nichts für ihn tun. Und jetzt kommen Sie. Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer zurück.”
Drei Tage später entfernte Dr. Zanabi, der kenianische Arzt, meinen Verband. Er strahlte dabei, als packe er ein Geschenk für sich aus. Es fiel mir schwer, seine kindliche Freude zu teilen. Zack dämmerte noch immer irgendwo in einer finsteren Leere, einer Art Vorhof des Sterbens, dahin. Wann immer es mir erlaubt worden war, hatte ich mich neben ihn gesetzt und versucht, ihn durch geflüsterte Beschwörungen zurück in das Bewusstsein zu holen. Aber er hörte mich nicht. Er lag nur da, schwach atmend, ein Organismus im Tiefschlaf, der nicht nur von der Welt, sondern auch von sich selbst seit Tagen abgeschnitten war. Wusste er, dass er existierte? Oder war er auf einen reflexartig Atem holenden Körper reduziert und der wirkliche Zack in diesem Zustand der Starre schon tot, vorübergehend ausgelöscht und nur durch ein Wunder erneut zum Leben zu erwecken, falls ein dumpfes, kaltes Es daran interessiert war, ihm eine zweite Chance zu geben – dasselbe kalte und unzulängliche Es, welches dafür verantwortlich war, dass er sich überhaupt in dieser Nulldimension zwischen Diesseits und Jenseits befand? In irgendeinem schmalen Gedichtband, der mir durch Zufall einmal in die Finger geraten war, hatte ich gelesen:
Der Tod
stand am Tresen einer Kneipe
und erzählte einen üblen Witz,
über den niemand recht lachte.
Trotzdem war die Pointe
sehr gut.
Zack und ich, die ganze Welt – wir alle waren in diesem für uns unverständlichen Witz gefangen, und wenn wir Glück hatten, wurde er nicht so bald zu Ende erzählt. Scheiße aber auch, Zack war auf dem besten Weg, seinen endgültigen Abschied zu geben, und ich saß da und schaute zu, wie ein freundlicher Dr. Zanabi mir einen runden Spiegel vor das Gesicht hielt, damit ich das Ergebnis seines geschickten chirurgischen Eingriffs begutachten konnte!
Aber noch was anderes ging mir, während ich Dr. Zanabi mit zu wenig Enthusiasmus bestätigte, er habe gute Arbeit getan, jäh durch den Sinn. Was Zack zugestoßen war – es hätte auch mir zustoßen können. Woher also nahm ich das Recht, das, was mir gegeben worden war, mein Leben, zu vergeuden und konturlos an seiner Oberfläche zu treiben, wenn die Tür jederzeit mit lauten Knall zuschlagen konnte? Ich war ein Teilnehmer in einem kolossalen Spiel, und während alle anderen bereits losgeprescht waren, um Punkte für sich zu verbuchen, harrte ich dicht hinter der Startlinie aus und grübelte noch, in welche Richtung ich loslaufen sollte. Dumpf spürte ich, dass die Richtung gleichgültig war, sofern ich nur lief. Noch aber schienen mir meine Beine nicht zu gehorchen, und ich stand wie angewurzelt auf der Stelle. Je länger ich jedoch zweifelte, desto stärker wurde die Gewissheit, dass Untätigkeit kein Talent ist, mit dem man angeben kann. Wer mit dem Arsch nicht hochkommt, der ist so gut wie verratzt, und nur wer bereit ist, ins Wasser zu steigen, kann lernen, nicht unterzugehen. Es klang einfach und klar. Wieso hatte
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