Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
Davidson runzelte die Stirn, als er über die Schulter schaute. Er konnte ebenso wenig erkennen wie zuvor Gem. Als er sich zurückdrehte, fragte er leise: »Bist du sicher? Ich habe gehört, er sei vor einer Weile gestorben.«
Gem verspürte einen Anflug von Scham über die Freude, mit der sie die Vorstellung erfüllte. Allerdings währte das Gefühl nur kurz. Es verblasste, als ihr Vater hinzufügte: »Aber ich könnte mich auch irren. Ich werde mich mal erkundigen. Nur sollte man meinen, wenn er hier wäre, würde er vorne sitzen.«
Gem zuckte mit den Schultern; naturgemäß sah sie dies anders. »Wahrscheinlich hast du Recht«, gab sie zurück.
Als sie sich zum Abschlussgesang erhoben, zuckte sie angesichts eines jähen Schmerzes in ihrer Brust zusammen.
Paul hörte auf zu singen und beugte sich zu ihrem Ohr. »Essenszeit?«
»Fast. Aber der Gottesdienst ist so gut wie vorüber. Ich kann warten.«
Paul lachte. »Ja, aber Connor auch? Wahrscheinlich heult er seiner Oma gerade die Ohren voll.«
Gem stupste ihn verspielt. »Ich habe ihr eine Flasche dagelassen. Er kommt schon klar.« Natürlich hing dies davon ab, ob ihre Mutter daran denken würde, den Deckel abzunehmen, bevor sie die Flasche in den Mikrowellenherd stellte. Technik war nie Deanna Davidsons Stärke gewesen. Gem fragte sich, ob die Zwillinge rechtzeitig ins Bett kommen würden. Wenn nicht, würden sie am nächsten Morgen unausstehlich sein. Sarah und Sean. Die Namen stammten von Paul.
Ihre Mutter hatte nie großes Interesse an einem Lebensstil bekundet, der die Kirche inkludierte, aber wenigstens hatten sie dadurch für diesen Abend eine Babysitterin. Und sie nahm ihre Familie mittlerweile verstärkt wahr. Gemeinsame Familienessen wurden häufiger. Dabei erkundigte sich ihre Mutter stets nach den Neuigkeiten in der Kirchgemeinde, wenngleich sie die meisten Leute nicht kannte. Nachts verschwand sie immer noch gelegentlich, allerdings selten. Auf jeden Fall genossen sie mittlerweile mehr gemeinsame Familienzeit als je zuvor.
Die Menge strömte den Mittelgang hinab, weg von Joyces Sarg. Köpfte drehten sich zu einem letzten Blick um und flüsterten einen Abschied. Gem bewegte sich zwischen ihrem Vater und ihrem Mann in der Menge. Sie versuchte, die langhaarige Erscheinung von Ray Lindu auszumachen, konnte ihn jedoch nicht entdecken. Langsam arbeiteten sie sich zu dritt zu einer improvisierten Empfangslinie an der Tür vor. Rebecca Lindu wurde von LeAnn auf einer und Reverend McCarthy auf der anderen flankiert. Neben dem Pastor stand Bischof Camez und suchte ihren Blick. Nachdem sie sich begrüßt und kurz umarmt hatten, entschuldigte er sich von den anderen und ging mit ihnen nach draußen. Er ergriff die Hand von Gems Vater und sagte: »Danke, dass Sie gekommen sind, Jim.«
»War doch selbstverständlich.« Er erwiderte das flüchtige Händeschütteln, bevor der Bischof die Aufmerksamkeit Gem zuwandte.
»Ich will Sie nicht aufhalten«, sagte er und reichte ihr ein weißes, zweifach gefaltetes Stück Papier. Beide Seiten waren mit Kugelschreiber vollgeschrieben. »Von Bill Watts. Es tut ihm leid, dass er nicht hier sein kann, aber ... na ja ...« Marcs Lächeln verblasste. In den vergangenen Tagen hatten viele Gesichter einen ähnlichen Konflikt widergespiegelt, ein Hin und Her zwischen Verzweiflung darüber, Joyce verloren zu haben, und der Gewissheit, dass sie nun an einem besseren Ort weilte.
»Er hat das direkt an mich geschickt, aber er fragt darin nach Ihnen. Ich habe den Brief bereits gelesen.« Er ging die Stufen zurück hinauf, um sich wieder zu den anderen zu stellen. »Sie können ihn behalten, wenn Sie möchten. Ich habe eine Kopie angefertigt. Es ist schön zu wissen, wie es unseren Gemeindemitgliedern geht, ganz gleich, wo sie sich aufhalten.« Dann nahm Phyllis Cowles seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Die betagte Dame hakte sich bei ihm ein und sprach ihm ins Ohr, als wäre er statt ihr derjenige, der so gut wie taub war.
Gem winkte ihm mit dem Papier zwischen den Fingern einen stummen Dank zu, dann zog sie angesichts der Kälte draußen den Mantel enger um sich und steckte den Brief behutsam in eine Tasche. Sie würde ihn auf der Fahrt nach Hause lesen.
Das Gelände der S CHWESTERN DES M ITGEFÜHLS lag zwanzig Meilen südöstlich von Rayong und sechs Meilen nordwestlich von Thailands südlichster Grenze zu Kambodscha. Zum Waisenhaus gelangte man über einen viereinhalb Meilen langen, alten und zerfurchten Pfad, der von der
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