Polarsturm
befragte Leuthner einen jungen Mann, dessen Geschichte Loren und Pitt fast von ihren Stühlen riss.
Der Bericht stammte von Koo-nik, der dreizehn Jahre alt war, als er 1849 mit seinem Onkel westlich von der King-William-Insel auf Robbenjagd ging. Er und sein Onkel waren auf einen Pingo geklettert, einen durch Frostaufbruch entstandenen Hügel, und dabei auf ein mächtiges Boot gestoßen, das in einer großen Eisscholle festsaß.
»Kobluna«, sagte der Onkel, worauf sie sich auf den Weg zu dem Boot begaben.
Als sie näher kamen, hörten sie lautes Gebrüll und Schreie aus dem Inneren des Schiffes. Ein Mann mit wildem Blick und langen Haaren winkte sie zu sich. Da sie eine frisch erlegte Robbe zum Tauschen hatten, wurden sie sofort auf Deck eingeladen, wo weitere Männer auftauchten, schmutzig und ausgezehrt, die Kleidung mit trockenem Blut verkrustet. Einer der Männer starrte Koo-nik an und plapperte unverständliches Zeug, zwei andere tanzten auf dem Deck herum. Die Besatzung sang ein altes Lied und bezeichnete sich als »Männer der Schwärze«. Die wirken alle wie von bösen Geistern besessen, dachte Koo-nik. Aus lauter Angst klammerte er sich an seinen Onkel, als dieser das Robbenfleisch gegen zwei Messer und ein paar silbrig glänzende Steine eintauschte, die nach Aussage der Koblunas eine einzigartige Wärmekraft besaßen. Die Koblunas versprachen weitere Werkzeuge und silberne Steine, wenn ihnen die Inuit noch mehr Fleisch brachten. Daraufhin brach Koo-nik mit seinem Onkel auf, doch er sah das Boot nie wieder. Er berichtete aber, dass sein Onkel und einige andere Männer ein paar Wochen später eine große Anzahl Robben zu dem Boot brachten und mit vielen Messern und einem Kajak voller Schwarzem Kobluna zurückkehrten.
»Es muss das Ruthenium gewesen sein«, sagte Loren aufgeregt.
»Ja, das Schwarze Kobluna«, pflichtete Pitt bei. »Aber woher hatten es Franklins Männer?«
»Möglicherweise haben sie es bei einer Schlittentour auf einer der Nachbarinseln gefunden, als die Schiffe im Eis festsaßen«, warf Perlmutter ein. »Natürlich hätten sie schon viel früher eine Mine entdeckt haben können, irgendwo zwischen Grönland und der Victoria-Insel, und die sind tausend Meilen voneinander entfernt. Kein allzu guter Anhaltspunkt, fürchte ich.«
»Ich finde das Verhalten der Besatzung sehr seltsam«, stellte Loren fest.
»Ich habe eine ähnliche Geschichte gehört. In Südafrika wurden angeblich Fabrikarbeiter verrückt, weil sie mit Ruthenium in Berührung kamen«, erwiderte Pitt. »Aber Sinn ergibt das nicht, da das Mineral von Natur aus nicht gefährlich ist.«
»Vielleicht lag es bloß an den entsetzlichen Bedingungen, die sie ertragen mussten. Sie haben gefroren und gehungert und saßen in diesen endlos langen, dunklen Wintern in einem engen Schiff fest«, sagte Loren. »So was würde mich auch in den Wahnsinn treiben.«
»Nimm noch Skorbut, Erfrierungen und Lebensmittelvergiftung durch die verdorbenen Vorräte hinzu, die in schlampig mit Blei verlöteten Konservendosen mitgeführt wurden, dann hast du eine Menge-Gründe, die einen Mann um den Verstand bringen können«, pflichtete Perlmutter bei.
»Aber das ist nur eins von mehreren ungelösten Rätseln im Zusammenhang mit dieser Expedition«, sagte Pitt.
»Der Bericht scheint die Geschichte des Händlers zu bestätigen, der die Bergbaugenossenschaft beliefert hat«, stellte Perlmutter fest.
»Vielleicht befindet sich des Rätsels Lösung noch immer auf dem Schiff«, wandte Loren ein.
Pitt beschäftigte sich bereits mit demselben Gedanken. Er wusste, dass das eisige Wasser der Arktis erstaunliche Konservierungseigenschaften hatte. Die
Breadalbane
, ein 1843 gebautes hölzernes Schiff, das an einer der Expeditionen zur Rettung Franklins teilgenommen hatte und nahe der Beechey-Insel vom Eis zermalmt worden war, hatte man unlängst mit noch aufrecht stehenden Masten entdeckt. Dass es also in einem Schiff nach wie vor Hinweise auf die Herkunft des Rutheniums geben könnte, war durchaus möglich. Aber auf welchem Schiff, und wo lag es?
»Ein zweites Schiff wurde nicht erwähnt?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte Perlmutter. »Und laut der Ortsangabe, die sie liefern, hat sich das Ganze etwas weiter südlich von der Stelle zugetragen, an der Franklins Schiffe aufgegeben wurden.«
»Vielleicht wurden sie durch die Eisdrift voneinander getrennt«, warf Loren ein.
»Durchaus denkbar«, erwiderte Perlmutter. »Leuthner berichtet weiter hinten noch
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