Polgara die Zauberin
vielleicht –, und jedesmal, wenn ich es aufhob, um es zu studieren, schien es sich zu verändern. Das eine Ende konnte ich ziemlich deutlich sehen, das andere aber nie finden. Ich denke, ›das Puzzle‹ trug dazu bei, meine Sicht der Welt und des Lebens selbst zu formen. Wir wissen, wo sich das eine Ende befindet – der Anfang –, aber das andere können wir nie richtig erkennen. Es bereitete mir indes endlose Stunden der Unterhaltung, so daß Onkel Beldin Gelegenheit bekam, sich ein wenig auszuruhen.
Ich studierte gerade ›das Puzzle‹ als Vater zu Onkel Beldins Turm kam, um Lebewohl zu sagen. Beldaran und ich waren vielleicht eineinhalb Jahre alt – vielleicht auch ein wenig jünger –, als er in den Turm kam und Beldaran küßte. Ich verspürte die gewohnte Aufwallung von Eifersucht, hielt meinen Blick jedoch in der Hoffnung, er möge endlich verschwinden, starr auf ›das Puzzle‹ gerichtet.
Und dann hob er mich hoch und lenkte meine Aufmerksamkeit von dem ab, woran ich gerade arbeitete. Ich versuchte mich ihm zu entziehen, aber er war stärker als ich. Schließlich war ich kaum mehr als ein Säugling, auch wenn ich mich bedeutend älter fühlte. »Hör auf damit«, sagte er zu mir, und sein Tonfall klang gereizt. »Die Vorstellung mag dir nicht behagen, Pol, aber ich bin dein Vater, und du hast mich am Hals.« Und dann küßte er mich, was er vorher nie getan hatte. Einen Augenblick lang – nur einen kurzen Augenblick – spürte ich seinen Schmerz, und mein Herz wurde weich.
›Nein‹, vernahm ich Mutters Gedanken, ›noch nicht‹
Damals dachte ich, sie sage das, weil sie noch immer zornig auf ihn sei, und daß ich das Gefäß ihres Zorns sein solle. Jetzt weiß ich, daß ich mich irrte. Wölfe vergeuden einfach keine Zeit damit zornig zu sein. Aber die Reue und Trauer meines Vaters hatten sich noch nicht erschöpft, und der Meister hatte noch viele Aufgaben für ihn. Bis er das, was er für seine Schuld hielt nicht gesühnt hatte, wäre er nicht bereit für diese Aufgaben. Meine Fehldeutung von Mutters Absichten verleitete mich zu etwas, was ich wohl besser nicht getan hätte. Ich schlug mit ›dem Puzzle‹ auf ihn ein.
»Feurig, die Kleine, nicht wahr?« murmelte er zu Onkel Beldin. Dann setzte er mich ab, gab mir einen leichten Klaps auf den Po, den ich kaum spürte, und sagte, ich solle mich benehmen.
Ganz gewiß wollte ich ihm nicht die Genugtuung geben anzunehmen, seine Züchtigung habe meine Einstellung zu ihm in irgendeiner Weise verändert und so drehte ich mich herum, ›das Puzzle‹ noch immer in der Hand wie eine Keule, und funkelte ihn wütend an.
»Benimm dich, Polgara«, sagte er auf die denkbar sanfteste Art zu mir. »Geh jetzt spielen.«
Er ist sich vermutlich selbst heute noch nicht darüber im klaren, aber in diesem Moment habe ich ihn beinah geliebt – beinah, aber eben nicht ganz. Die Liebe kam später, und es dauerte Jahre.
Nicht lange darauf verließ er das Tal, und wieder bekam ich ihn für eine ziemlich lange Zeit nicht zu Gesicht.
K APITEL 2
Nichts, was jemals geschieht, ist so unwichtig, daß es den Lauf der Dinge nicht verändert, und Vaters Eindringen in unser Leben konnte man kaum unwichtig nennen. Dieses Mal fand die Veränderung mit meiner Schwester Beldaran statt, und sie gefiel mir überhaupt nicht. Bis mein Vater von seinem Ausflug nach Mallorea zurückkam, gehörte Beldaran fast ausschließlich mir. Vaters Rückkehr änderte das. Nun mußte ich ihre Gedanken, die bis dahin nur mir gegolten hatten, mit jemandem teilen. Sie dachte häufig an diesen alten, bierseligen Strolch, und ich nahm ihr das sehr übel.
Beldaran war, selbst als wir kaum mehr als Babys waren, von Sauberkeit besessen, und meine aggressive Gleichgültigkeit gegenüber meinem Äußeren brachte sie sehr auf.
»Kannst du nicht wenigstens dein Haar kämmen, Pol?« fragte sie eines Abends. Sie sprach ›Zwilling‹, eine Geheimsprache zwischen uns beiden, die sich fast von der Zeit an, als wir noch in der Wiege lagen, entwickelt hatte.
»Wozu? Das ist doch nur Zeitverschwendung.« »Du siehst fürchterlich aus.«
»Wen kümmert es, wie ich aussehe?«
» Mich. Setz dich hin, und ich richte es dir.«
Und so setzte ich mich auf den Stuhl und ließ meine
Schwester an meinen Haaren herumhantieren. Sie nahm das sehr ernst: ihre blauen Augen blickten konzentriert, und ihre noch recht rundlichen Finger waren beschäftigt. Ihre Mühe war natürlich vergeblich, denn niemandes Haar bleibt lange in
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