Polgara die Zauberin
Frieden über mich und verscheuchte meine Beklommenheit. Irgendwie wußte ich, daß der Baum mir nichts Böses wollte. Ziemlich entschlossen näherte ich mich diesem gigantischen, knorrigen Stamm.
Und dann streckte ich meine Hand aus und berührte ihn.
Und das war mein zweites Erwachen. Das erste war eingetreten, als Vater seine Hand segnend auf meinen Scheitel gelegt hatte, doch in gewisser Weise ging dieses Erwachen weitaus tiefer.
Der Baum sagte mir – obwohl ›sagen‹ vermutlich nicht der richtige Ausdruck dafür ist, da der Baum nicht wirklich spricht –, daß er das älteste Lebewesen auf der ganzen Welt war – ist, vermute ich. Ungezählte Zeitalter haben ihn genährt, und er steht in vollkommener Gemütsruhe im Mittelpunkt des Tals und schüttelt Jahre wie Regentropfen von seinem enormen Blätterdach. Da er älter als wir alle und ein lebendiges Wesen ist, sind wir alle auf eine geheimnisvolle Weise seine Kinder. Die erste Lektion, die er mir beibrachte – die erste Lektion, die er jedem beibringt, der ihn berührt –, bezog sich auf das Wesen der Zeit. Zeit, das langsame, gemessene Dahinschreiten der Jahre, ist nicht ganz das, wofür wir es halten. Die Menschen neigen dazu, die Zeit in handliche kleine Happen aufzuteilen – Tag und Nacht den Gang der Jahreszeiten, das Vergehen der Jahre, Jahrhunderte, Äonen –, aber in Wahrheit ist die Zeit eins und ungeteilt ein Strom, der endlos vom Beginn zu einem unbegreifbaren Ziel fließt. Behutsam führte der Baum meinen kindlichen Verstand in dieses ausgesprochen schwer zu erfassende Denkmuster ein.
Ich glaube, wenn ich dem Baum nicht an genau diesem Zeitpunkt begegnet wäre, hätte ich wohl niemals die Bedeutung meiner ungewöhnlichen Lebensspanne ermessen können. Langsam, die Hände immer noch auf der rauhen Rinde, begriff ich, daß ich so lange leben würde, wie es nötig war. Der Baum blieb ziemlich vage in bezug auf die Art der Aufgaben, die vor mir lagen, aber er machte mich mit der Vorstellung vertraut daß diese Aufgaben eine sehr lange Zeit brauchen würden.
Und dann hörte ich eine Stimme – mehrere, um genau zu sein. Der Sinngehalt dessen, was sie mir sagten, war mir vollkommen klar, aber irgendwie wußte ich, daß es sich nicht um menschliche Stimmen handelte. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich in der Lage war, ihren Ursprung zu bestimmen, und dann flatterte ein ziemlich frecher Spatz durch diese riesenhaften Zweige herunter, verankerte wenige Fuß von meinem Gesicht entfernt seine winzigen Klauen in der rauhen Baumrinde und betrachtete mich aus seinen glitzernden Äuglein.
»Willkommen, Polgara«, zwitscherte er. »Was hat dich so lange aufgehalten, daß du uns erst jetzt findest?«
Der kindliche Verstand ist im allgemeinen willig, Ungewöhnliches, ja sogar Absonderliches zu akzeptieren, aber das ging ein bißchen zu weit. Ich starrte diesen redseligen Vogel völlig verdutzt an.
»Warum siehst du mich so an?« verlangte er zu wissen.
»Du sprichst !« platzte ich los.
»Selbstverständlich. Wir sprechen alle. Du hast nur nicht zugehört. Du solltest dem, was um dich herum vor sich geht wirklich größere Aufmerksamkeit schenken. Du wirst mir doch nichts tun, oder? Ich flieg weg, wenn du's versuchst, damit du Bescheid weißt.«
»Nnein«, stotterte ich. »Ich tu dir nichts.«
»Gut. Dann können wir uns unterhalten. Hast du zufällig auf dem Weg hierher irgendwelche Körner gesehen?«
»Ich glaube nicht. Aber ich habe auch nicht danach gesucht.«
»Du solltest lernen, darauf acht zu geben. Mein Weibchen hat drei Junge im Nest, und ich soll eigentlich nach Samenkörnern für sie Ausschau halten. Was ist denn das da auf deinem Ärmel?«
Ich besah mir den Ärmel meines Kinderkittels. »Scheint eine Art Samen zu sein – Gras vermutlich.«
»Fein, was stehst du dann noch herum? Gib's mir.«
Ich kratzte die Samen von meinem Ärmel und hielt sie ihm hin. Er hüpfte vom Baumstamm auf meinen Finger, den Kopf auf die Seite gelegt, während seine klaren kleinen Augen meine Gabe kritisch musterten. »Es ist Gras, in Ordnung«, stimmte er mir zu. Dann schien er tatsächlich zu seufzen. »Ich hasse es, wenn es nichts zu essen gibt außer unreifem Grassamen. Es ist noch früh im Jahr, und diese Körner sind so winzig.« Er nahm die Samen in den Schnabel. »Geh nicht weg. Ich bin gleich wieder da.« Und mit diesen Worten flog er fort.
Einige Momente lang dachte ich wirklich, ich hätte geträumt. Dann jedoch kehrte mein Spatz zurück, und bei sich hatte er
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