PopCo
geht,einfach nicht gut ertrage. Obwohl ich sonst in fast jeder Hinsicht recht normal bin, kann ich engen Kontakt mit Fremden gar
nicht haben. Da könnte ich jedes Mal losheulen. Daher der Nachtzug.
Aufgrund dieses «Zustands» . (egal, ob man ihn nun als allgemein menschlichen oder medizinischen auffassen möchte) fahre ich fast immer einen Tag vor
meinen «Mitreisenden» ans jeweilige Ziel. Und obwohl ich mir diese Art des Reisens ursprünglich angewöhnt habe, um ein Problem
zu beheben, kommt es inzwischen recht häufig vor, dass ich das Problem vergesse und einfach nur das Erlebnis genieße. Das
fühlt sich an, als würde man als Einziger mit einem Karussell fahren oder ganz für sich allein einen Kuchen backen.
Ich habe meinen Koffer auf dem Boden abgestellt, doch plötzlich macht es mich nervös, dass er dort steht. Das hier ist nun
mal kein alter Schwarzweißfilm: Er könnte gestohlen oder einfach nur schmutzig werden. Ich nehme den Koffer in die Hand und
schaue auf die Abfahrtstafel. Mein Zug fährt von Gleis 9. Ich bin gespannt, wie mir die Reise gefallen wird. Natürlich habe ich überlegt, mit dem Auto zu fahren, aber mein Morris Minor,
Baujahr 1960, den ich von meinem Großvater geerbt habe, eignet sich nicht so recht für längere Reisen. Ich will den Wagen
ja nicht zu sehr vermenschlichen (das gehört zu den größten Gefahren, wenn man bei einem Spielzeughersteller arbeitet, weil
man schnell mitkriegt, dass jedes beliebige Ding lebendig werden kann, wenn man ihm ein Paar Augen verpasst), aber auf langen
Fahrten scheint er irgendwie trübsinnig zu werden. Das ist schade, denn eigentlich genieße ich es sehr, in meiner eigenen
kleinen Kapsel über die schläfrige Autobahn zu brausen und die Straße nur mit den großen Lastern und ihren trüben, orangefarbenen
Raumschiffscheinwerfern zu teilen. Aber der Nachtzug ist auch ein Abenteuer, undaußerdem bin ich ja nur zwei Tage fort. Ich will noch am Sonntagabend zurück, sobald das Event vorbei ist, und dann bin ich
mit Sicherheit zu müde zum Fahren. Außerdem wäre es nett, zum Abschluss einen Martini trinken zu können, ohne danach noch
vierhundert Kilometer Heimfahrt vor sich zu haben. Oder lieber doch keinen Martini. Das Martinitrinken habe ich mir angewöhnt,
weil es sonst keiner tat, aber jetzt fahren plötzlich alle darauf ab. Noch so eine Zwickmühle.
Ich mache mich auf den Weg zu Gleis 9. Es treiben sich noch ein paar andere Leute am Bahnhof herum: Manche hocken auf Bänken, andere tragen Kapuzenshirts, wieder
andere sind offensichtlich betrunken oder machen einen irgendwie heimatlosen Eindruck. Nur auf einer Bank sitzt ein Grüppchen,
das wohl eine Familie sein muss: ein Mann, eine Frau und drei Kinder. Sie sehen müde und verhärmt aus und tragen Kleider,
die ich nicht auf den ersten Blick einer Marke zuordnen kann. Wer sie wohl sind? Ich mag mich ja in meiner persönlichen Zeitschleife
aus Dampfloks und Romantik verloren haben, aber diese Leute bedeuten einen echten Zeitsprung, wie sie da auf der Bank sitzen
und sich einen Laib Brot teilen. Ich will schon wieder aufhören, sie anzustarren, und einfach weitergehen, da fällt mir auf,
dass eins der Kinder in einem Buch mit rotem Einband liest. Ist das ein Moment, wie ihn Schriftsteller vermutlich ständig
erleben, ich ihn aber gar nicht kenne? Liest dieses kleine, magere, leicht verloren wirkende Kind tatsächlich das Begleitbuch
zu einem meiner Produkte? Ich gehe näher an die Bank heran, versuche, etwas zu erkennen, doch als ich nahe genug bin, ist
das Buch verschwunden, und das Kind hält nur eine rote Butterbrotdose in der Hand. Auf dem Weg zum Gleis meine ich, irgendwo
in den Weiten der Bahnhofshalle eine Eule rufen zu hören.
KAPITEL ZWEI
Beim Einsteigen kontrolliert der Zugbegleiter meine Fahrkarte und zeigt mir dann mein Abteil. Es ist ein Zweibettabteil, aber
die obere Liege ist hochgeklappt. An der Wand befindet sich ein Waschbecken, das mit einem Deckel verschlossen wird, daneben
hängt ein kleines Handtuch. Das untere Bett ist frisch gemacht: gestärkte Baumwolllaken, eine leichte Wolldecke.
Schlafwagenabteile haben eigentlich nur einen Nachteil: Sie bekommen meinen Haaren nicht. Ich weiß nicht, ob es an der Klimaanlage
liegt oder an der statischen Aufladung oder aber an dem samtigen Material, mit dem Zugabteile ausgekleidet sind, aber meine
Haare führen sich jedenfalls auf wie Fusseln, die am Fliegenfänger
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