PopCo
KAPITEL EINS
Die Paddington Station fühlt sich an, als sollte man sie schließen. So spät am Abend, lange nach Ende des Berufsverkehrs,
ist die Bahnhofshalle ein Ort der Echos, durch den hin und wieder ein kalter Windstoß pfeift, ein dünner Lufthauch, der nach
Diesel riecht. Eigentlich ist das der ideale Zeitpunkt, sich auf Bahnhöfen aufzuhalten, wenn sonst kaum jemand unterwegs ist.
Es ist kurz vor halb zwölf, und ich bin auf der Suche nach meinem Zug, der in zwanzig Minuten abfahren soll. Der Bahnhof fühlt
sich an, als stünde er unter Betablockern. Ein Puls? Ja, aber stark verlangsamt. Medikamentös verlangsamt – angenehm vernebelt.
Ein gesunder Mensch mit einem solchen Lebenstempo wäre wohl jemand, der täglich Trampolin springt, anstatt der Hektik zum
Opfer zu fallen, die zwischen fünf und sechs Uhr abends die Blutgefäße des Bahnhofs verstopft.
Zum ersten Mal seit Wochen trage ich wieder richtige Schuhe und höre beim Gehen meine Schritte, eine D-Dur -Tonleiter auf Beton. Falls Sie sich jemals mitten in der Nacht auf einem Bahnhof herumtreiben, sollten Sie unbedingt darauf
achten, dass Sie Ihre Schritte hören können. Falls Sie dazu noch ein bisschen musikalisch sind, sollten Sie außerdem versuchen,
die Töne zu bestimmen, die Sie beim Gehen machen. Dann fühlen Sie sich gleich nicht mehr so einsam. Womit ich nicht sagen
will, dass ich mich einsam fühlen würde. Ich trage heute Abend einen langen Mantel, und eigentlich fehlen mir nur noch ein
Hut und eine Zigarettenspitze mit einer exotischen Zigarette. Das würde den Look perfekt machen, den ich aus Filmen und Spionagethrillern
kenne, auch wenn ich nichtweiß, wie er heißt. Dafür kenne ich genügend Leute, die das sofort wüssten.
Dieselben Leute würden sicher auch alle möglichen anderen Schlüsse aus meiner Kleidung ziehen. Sie würden annehmen, mein «Look»
sei bewusst gewählt. Sie würden meine Bluse und den Pulli betrachten und sagen: «Na, Alice, heute im Schulmädchen-Look?» Dann
würde ihr Blick auf den Schottenrock, die Strumpfhose und die festen Schuhe fallen, und sie würden zu dem Schluss kommen,
dass es sich wohl doch eher um meinen altbekannten «Bletchley-Park-Look» handelt. Sobald sie meinen «Look» identifiziert hätten,
würden besagte Leute automatisch davon ausgehen, dass alles andere auch dazugehört; dass die Klamotten und was ich vom Portemonnaie
über den Koffer bis hin zur Unterhose sonst noch an mir habe, dass all das einzig und allein mit dem Ziel gewählt ist, mich
zu identifizieren, mir meinen eigenen Code zu geben, mich zur Marke zu machen. Selbst wenn ich, wie früher oft, einen absolut
zufälligen Mix aus komischen alten Kleidungsstücken anhätte, würden sie das noch als «Flohmarkt-» oder «Penner-Look» bezeichnen.
Das geht mir wahnsinnig auf den Geist. Die anderen wissen, dass es mich nervt, deswegen machen sie es ja, aus dieser merkwürdigen
Logik heraus, die manche Dinge umso lustiger werden lässt, je mehr sich jemand darüber ärgert.
Ich arbeite bei dem Spielzeughersteller PopCo. Die meisten meiner Kollegen sind gerne dort. PopCo ist ein junges, hippes Unternehmen,
das keine Kleiderordnung, keine Regeln und auch keine festen Arbeitszeiten kennt, zumindest nicht in der Abteilung für Ideenentwicklung
und Design (ID). Unsere Abteilung, die früher schlicht «Forschung und Entwicklung» hieß, hat ihre eigene kleine Firmenzentrale
in einem Backsteinbau in Battersea, und alle, die dort arbeiten, können ganze Nächte durchackern, um einen neuen Prototyp
fertigzustellen, sindaber genauso gut imstande, sich plötzlich allesamt eine Woche lang zum Trendscouten und Feldforschen nach Prag abzusetzen.
Bei PopCo geht es allen immer und überall nur um Ideen. Unser ganzes Leben dreht sich ausschließlich darum, Ideen zu umwerben:
Für sie sind wir ständig paarungsbereit, und wir spreizen unsere Schwanzfedern und führen unsere Balztänze auf, um sie anzulocken.
Und wenn sie dann irgendwann sturzbesoffen vor der Tür stehen, obwohl wir die Hoffnung, sie an dem Tag noch zu sehen, längst
aufgegeben hatten, lassen wir sie jedes Mal herein.
Wer bei PopCo Ideenentwicklung und Design macht, ist grundsätzlich unfassbar cool. Das ist den Leuten auf eine Art und Weise
wichtig, die ich völlig unmöglich finde – vielleicht, weil ich meine eigene Abteilung bin und eine Produktserie betreue, die
ganz für sich allein steht. Ich bin eine Insel, obwohl
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