Poppenspael
läuft der tödliche Mechanismus ab. Der
Schlagbolzen schnellt nach vorn. Seine runde Metallspitze trifft
auf das Zündhütchen, das in einer Vertiefung in der Mitte
des Patronenbodens sitzt. Der Aufschlag verformt das
Weißblech und reibt dabei die Kristalle der Zündmasse
aneinander. Eine Stichflamme zündet die Pulverkörnchen in
der Patronenhülse. Rasend schnell und rauchlos frisst sich
eine gelbliche Flamme durch die Nitrozellulose. Ein Gasdruck von
mehreren tausend Bar drückt die Kupfer-Zink-Legierung der
Patronenhülse auseinander, presst sie an die Wand des
Patronenlagers und verschließt die Waffe nach hinten
gasdicht. Im Inneren der Hülse werden es über 2000º
Celsius heiß. Das mit Messing überzogene Bleigeschoss
wird abgesprengt und vorwärts in den Lauf getrieben. Im
Schusskanal wird das Projektil über eine feine,
spiralenförmige Rille, die in das Metall gefräst ist, in
eine Rechtsdrall-Rotation um die eigene Achse gezwungen, schnellt
mit 1600 Stundenkilometern aus der Pistolenmündung und dreht
sich im Flug weiter durch die Luft in Richtung Ziel.
Als der Mann den
trockenen Knall hört und seine Hände von der Waffe
hochgerissen wird, blickt ihn die junge Frau aus weit aufgerissenen
Augen an. Sie steht keine fünf Meter vor ihm, das schmale
Gesicht ist aschfahl und ihre vollen Lippen sind halb
geöffnet, als wenn ihr das zweite »Nein!« im Hals
stecken geblieben ist. Er sieht, wie sie in sich zusammenknickt und
langsam zu Boden sackt.
*
Das blanke Entsetzen
springt Petra Ørsted an und rast den Rücken hinauf. Im
Kopf läutet eine Alarmglocke Sturm, panische Angst erfasst
ihren Körper, Angst vor physischer Vernichtung.
Eine Gestalt steht
plötzlich auf dem Fußweg, aus dem Nichts kommend wie ein
scharfer Luftzug. Der Vermummte hält eine Waffe in der Hand
und richtet diese stumm auf sie. Im gleichen Moment hört Petra
zwei Schüsse und sieht, wie die Patronenhülsen seitlich
aus der Waffe geschleudert
werden.
Der Ablauf hat sich
schlagartig verlangsamt. Ungläubig versucht sie das zu
erfassen, was in Zeitlupe vor ihren Augen abläuft. Drei
Schritte entfernt liegt die junge Ronja Ahrendt auf dem Bauch
ausgestreckt am Rand des Fußwegs. Direkt neben ihr
stürzt ihre Freundin Hanna Lechner auf die Knie, kippt nach
vorn und schlägt mit dem Gesicht hart auf den Erdboden. Die
Brille springt von der Nase und hüpft in mehreren Sätzen
nach vorn. Der Kopf bleibt auf der rechten Wange liegen. Augen und
Mund stehen offen, die rotbraunen Haare mit den grauen Spitzen
schimmern irreal im Mondlicht. Aus einem kleinen Loch auf der
linken Rückenpartie ihrer Leinenjacke sickert Blut.
Mit einer
geisterhaften Drehung wendet sich die schwarze Gestalt ihrer Person
zu, zielt mit seiner Waffe direkt auf ihren Oberkörper. Wie
elektrisiert blickt sie in das kleine Loch im Pistolenlauf. Das
starrt eiskalt zurück, ein unbarmherziges Auge des Todes, das
ihr ohne Mühe die Kehle zusammenschnürt. Es gibt kein
Entrinnen mehr. Sie merkt, dass ihre Knie weich werden, die Lippen
vibrieren. Ihr Atem wird flach, beginnt zu rasen. Sie friert.
Gänsehaut zieht sich über ihre Arme und Beine. Im Kopf
ist es taub. Ihre innere Stimme scheint für immer zu
verstummen.
Es gibt keinen Grund
mehr zur Flucht, sie fügt sich bereitwillig in ihr Schicksal.
Gleichzeitig wird sie von der Erkenntnis durchströmt, dass die
Seele ihren gesamten Körper ausfüllt und alle ihre
gelebten Widersprüche aufhebt. Das ist das wahre Sein, ein
Sein, das selbst zum Bewusstsein wird. Ihr letzter Atemzug ist der
Mittelpunkt der Welt.
Für die
Zeitspanne dieses Augenblicks rasen Impulse von ihrer Haut, aus
ihren Blutgefäßen, Eingeweiden, Muskeln und Gelenken
durch das Rückenmark zum Hirnstamm und von dort durch den
Thalamus, Hypothalamus in die Hirnrinde der Scheitel- und
Schläfengegend. Hier, in den Schaltkreisen des visuellen
Cortex, läuft innerhalb einer Hundertstel Millisekunde der
eigene Lebensfilm vor ihrem geistigen Auge ab.
Sie schwebt in einem
zeitlosen Universum, in dem Planeten und Sonnen sie umkreisen. Dann
schrumpft der weite Raum um sie herum unmerklich zusammen, und
weiche, elastische Höhlenwände pressen sich fest an ihren
Körper. Ihr Kopf wird in eine enge Öffnung gedrückt,
Atemnot, Erstickungsgefühl, Todesangst. Sie kämpft mit
aller Kraft, arbeitet sich langsam voran. Am Ende des Tunnels
blendet ein grelles Licht.
Die Bilder wirken
erschreckend real, rasen an ihrem inneren Auge vorbei und werden
von
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