Porträt eines Starters: Die Kurzgeschichte zum Roman »Starters« (German Edition)
meine Richtung kommt, erkenne ich sie. Sie hat bis vor zwei Monaten in unserer Straße gewohnt, in einem nahen Bürohaus. Ich habe auch sie gezeichnet.
Das kann doch nicht wahr sein.
»Chynna?«
»Ja?«, sagt sie mechanisch, ohne mich anzusehen.
Ich trete auf sie zu. Sie schiebt ihre Sonnenbrille ein wenig nach unten.
»Chynna!« Ich hebe den Arm zum Gruß. »Ich bin es. Michael.«
»Tut mir leid.« Die Brille rutscht wieder nach oben.
»Ich wohne in diesem Bürohaus ganz in deiner Nähe. Du erkennst mich wahrscheinlich nicht wieder.«
»In der Tat.« Sie starrt mich ausdruckslos an. »Das muss eine Verwechslung sein.«
Es ist ihr Gesicht, ihre Stimme. Aber sie ist anders gekleidet, trägt ein tolles Kleid, hohe Absätze und eine große Handtasche. Und ihre Haut – die ziemlich pickelig war, erinnere ich mich – ist perfekt geglättet. Sie wendet sich zum Gehen, und ich lege ihr unbedacht eine Hand auf den Arm.
»Lassen Sie mich los!«
Von weiter hinten kommt ein Ender aus seinem Laden und mischt sich ein. »Belästigt er Sie?«
»Und ob«, sagt sie. »Halten Sie diesen Starter von mir fern!«
Sie spuckt das Wort »Starter« aus wie Gift.
»Chynna, was ist denn los mit dir?«
Der Ladenbesitzer packt mich. Ich halte mich an Chynna fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie schlägt mit ihrer großen Tasche nach mir und trifft mich am Kinn.
Der Ladenbesitzer zerrt mich zurück, und ich falle. Er stürzt ebenfalls und beginnt mit mir zu ringen, als sei das hier eine Art Wrestling-Match.
»Lassen Sie mich los, verdammt noch mal«, schreie ich.
Mein Rucksack kippt um, und der Skizzenblock schlittert in den feuchten Rinnstein.
Als ich aufsehe, bekomme ich noch mit, wie Chynna – oder wer immer dieses Mädchen in Wahrheit ist – in ein elegantes weißes Auto steigen. Sie blickt durch ein getöntes Fenster spöttisch auf mich herab. Für sie bin ich der letzte Dreck. Als ob sie bis vor Kurzem nicht im gleichen Elend gesteckt hätte. Ihr Chauffeur gibt Gas.
Sie ist fort, und der Ladenbesitzer lässt mich endlich los.
Hoffentlich hat Callie das Ganze nicht mitbekommen.
Ich rette meinen Block und wische mit dem Ärmel meines Kapuzenpullis die Schlammspritzer ab. Dann rapple ich mich hoch und starre zu dem Haus hinüber, vor dem Callie stand.
Sie ist weg. Der Typ ebenfalls.
Ich gehe auf den Haupteingang zu, um nach ihnen zu suchen, aber da höre ich ein paar Straßenzüge entfernt eine Polizeisirene. Der Ladenbesitzer grinst mich fies an.
»Sie haben die Marshals gerufen«, sage ich.
»Kids wie du gehören ins Heim, das weißt du doch.«
Er ist wie alle Enders, die uns wegsperren möchten, weil wir sie an ihre Fehler erinnern. Bevor es mir bewusst wird, umklammern meine starken jungen Hände den gebrechlichen Hals des Alten. Ich drücke zu, bis er rot anläuft.
»Was ist das für ein Gebäude?« Ich drehe ihn in Richtung der verspiegelten Fassade.
»Prime … Destinations«, krächzt er mühsam.
»Was? Was ist das?«
Er macht den Mund auf, bringt aber keinen Laut heraus. Seine Lippen werden weiß. Ich spüre seine Knochen unter der kalten, dünnen Haut und könnte schwören, dass ich sie knirschen höre.
Was mache ich nur?
Das bin nicht ich. Ich führe mich tatsächlich auf, als hätte ich die Tollwut. Ich lasse ihn los. Er stolpert und stürzt, bleibt mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen. Keuchend starre ich seinen hinfälligen Körper an. Die Sirene kommt näher. Habe ich ihn verletzt? Schwer verletzt?
»Hey!«
Er rührt sich nicht. Schweißperlen treten auf meine Stirn. Dann bewegt er sich schwach. Das beruhigt mich ein wenig. Er stemmt sich auf alle Viere und schielt mich durch die Haarsträhnen an, die ihm ins Gesicht hängen.
»Warum gehst du nicht einfach rein?« Seine Stimme ist rau. »Vielleicht wäre es was für dich.«
Er weist mit dem Kinn auf das Gebäude. Prime Destinations. Das klingt, als wolle er mich in irgendeine Falle locken. Ich habe das Gefühl, dass ich den größten Fehler meines Lebens begehen würde, wenn ich dort hinein ginge. Aber zugleich würde ich nichts lieber tun, als da hinein zu stürmen und Callie zu suchen, um sie vielleicht vor dem größten Fehler ihres Lebens zu bewahren.
Doch die Patrouille biegt bereits mit schrillem Sirenengeheul um die Ecke. Die silberne Schnauze schießt auf mich zu. Der Ladenbesitzer hat sich aufgerichtet und deutet auf mich, den Aggressor, das Tier, den Starter.
Ich packe meinen Skizzenblock und den
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