Kein zurueck mehr
Kapitel 1
Jetzt muss ich anfangen zu lügen.
Während ich durch die Windschutzscheibe auf das Gebäude starre, in dem mein Bruder lebt, versuche ich mir eine passende Lüge zurechtzulegen, aber mir fällt einfach nichts ein. »Ich war gerade in der Gegend?« Ja klar. Es sind neunzehn Stunden von Chicago nach Albuquerque. Wenn man die Nacht durchfährt. Wenn man nur für ein paar Dosen Mountain Dew und eine Tüte Kentucky Fried Chicken »extra knusprig« anhält. Der KFC in Oklahoma macht übrigens viel zu früh dicht.
Vielleicht sollte ich es mit »Ich wollte mir nur etwas Zucker leihen« versuchen. Lächerlich. Wie wäre es mit: »Ich mache eine Tour auf der Suche nach dem perfekten Burrito.« Wenn Christian in den letzten fünf Jahren nicht blind geworden ist, wird hier keine Lüge ziehen. Meine aufgeplatzte Lippe sagt alles. Ich fahre mit der Zunge über den Spalt und sauge Blut.
Mein Gesicht wird die halbe Geschichte erzählen. Was die andere Hälfte betrifft, werde ich meinen Mund halten und durch Weglassen lügen. Eines Tages werde ich alles zugeben und dann kann er mich einer Lobotomie unterziehen oder was auch immer er für nötig hält. Aber jetzt, in diesem Moment, soll Christian nur an die Tür gehen, sie noch ein Stück weiter öffnen und mich reinlassen.
Als ich die Autotür aufmache, lässt mich ein lautes »Ding-ding, Ding-ding« zusammenschrecken. Ich mustere das Armaturenbrett und suche nach einer Erklärung. Ach so, die Scheinwerfer. Ich bin es nicht gewohnt, im Dunkeln zu fahren. Mein Führerschein ist erst ein paar Monate alt, aber nachdem ich es trotz angepisster Fahrer in Missouri, übermüdeter Oklahomaner, Stinkefinger-wedelnder Texaner und planloser Neu-Mexikaner bis hierher geschafft habe, hab ich zumindest einen beachtlichen Tachostand vorzuweisen.
Der Hauseingang liegt im Schein einer grellen Außenbeleuchtung. Der Flur drinnen ist beengt und die ehemals weißen Wände sind rußbefleckt. Ich gehe die Liste der Namen neben den Klingelknöpfen durch.
Da ist kein Witherspoon. Unser Nachname fehlt.
Ich krümme einen Finger, fahre mit dem Knöchel über die Klingelschilder, stoppe bei jedem Namen, um ganz sicherzugehen. GONZALES , mit blauem Kuli gekritzelt, MARSHALL in schwarzem Edding, NGU in geschwungener roter Tinte und ein Name, der mich an ein jugendfreies Schimpfwort erinnert: »S(*%?.«
Ich zerre meine Fototasche von der Schulter, gehe in die Hocke und stelle die Tasche auf den Boden. Der Reißverschluss ratscht auf, ich packe meinen Fotoapparat und das Blitzgerät aus und suche nach dem Briefumschlag, den meine Mom mir vor meiner Abfahrt in die Hand gedrückt hat. Ich überprüfe die Adresse. Ich bin richtig, aber jetzt fällt mir zum ersten Mal auf, dass der Brief vor einem Monat abgestempelt wurde.
Ich habe den Geschmack von Kupfer im Mund. Wenn Christian umgezogen ist, wie soll ich ihn dann finden? Der Briefumschlag sagt 4 B. Auch wenn bei 4 B MARSHALL dransteht, drücke ich den Knopf und das Geräusch des Summers hallt durch den winzigen Hausflur. Geh ran. Bitte sei zu Hause und geh ran .
Draußen fährt ein FedEx-Lieferwagen vorbei. Der Motor heult auf, schweigt, heult wieder auf. Der weiße Wagen verschwindet um die Ecke und lässt nur eine graue Abgaswolke zurück. Ein buckeliger Mann öffnet mühsam die Tür und hält sie seiner buckeligen Frau auf. Noch bevor sie über die Schwelle treten, sehen sie mich und bleiben stehen.
Ich sehe wirklich ziemlich abschreckend aus. Die aufgeplatzte Lippe ist nicht die einzige Landschaftsgestaltung, die mein Vater vorgenommen hat. Ein violetter Berg wächst auf meinem Kinn und ein roter Canyon durchfurcht meine Stirn.
Sie starren mich an und ich sauge an meiner Lippe, damit man den Riss nicht so sieht.
In diesem Moment kommt eine verzerrte Stimme aus dem Lautsprecher: »Wer ist da?«
Kann ich dieses Gespräch wirklich durch eine Türsprechanlage führen? Kennst du mich noch? Den Bruder, den du zurückgelassen hast? Tja, ich hab dich eingeholt. Selbst in meiner Fantasie breche ich hier ab. Den Rest blende ich aus.
»Ähm«, sage ich, »der FedEx-Kurier.«
Das Ehepaar erwacht aus seiner Erstarrung. Der Mann packt seine Frau am Ellenbogen, zerrt sie nach draußen, zieht die Tür ins Schloss und hilft ihr davonzuhumpeln. Was für ein großartiger Start in Albuquerque: Kaum angekommen und schon versetze ich die Einheimischen in Angst und Schrecken.
Der Türöffner summt. Ich drehe den Knauf, drücke die Tür auf und steige die
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