Porträt eines Süchtigen als junger Mann
beobachte die Leute in den Gängen und frage mich, wie sie ihr Leben meistern, wie irgendwer das hinkriegt. David geht mit mir durch den Laden wie ein Vater, der seinen Spross ins Ferienlager bringt, und fragt mich, ob ich Zahnpasta, Bonbons, Notizbücher brauche. Er kauft mir zwei Kladden. Die werde ich vollschreiben.
In den ersten Tagen in White Plains mache ich mir über den Jungen Gedanken, der in das Zimmer auf der anderen Seite des Gangs kommt – und über seine Mutter, die ihn, als sie seine Sachen abstellt, ansieht, als könnte er davonlaufen oder sich in Luft auflösen, sobald sie ihm den Rücken kehrt. Sie erinnert mich an Noah. Und als der Junge mich kurz anblickt, mit Augen wie zwei schwarze Murmeln, ohne Hoffnung, ohne Farbe, ohne Leben, sehe ich mich selbst.
Gegen Abend gehe ich auf einer sanft abfallenden Wiese spazieren, ähnlich der in Oregon, und frage mich, wie es weitergeht. Eines Spätnachmittags, wenige Tage vor meiner Rückkehr nach New York, weiß ich vor Angst und Verzweiflung nicht wohin und falle am oberen Ende der Wiese auf die Knie. Das Gras ist nass, weil es geregnet hat, und der Himmel ist lichtlos und grau vernebelt. Ich lege mich auf das feuchte, schlammige Gras und bitte die Erde leise um Hilfe. Lange bleibe ich so, dann stehe ich schließlich auf, meine Hose ist an Knien und Oberschenkeln durchnässt, an meinen Händen und Ellbogen klebt Matsch. Als ich wieder stehe, sehe ich einen Riss in der Wolkenwand, und in diesem Riss einen fernen Lichtstrahl. Er ist hellrosa und das Schönste, was ich je gesehen habe. Die Wolken öffnen sich weiter, das Licht nimmt zu, und dabei wird mir leichter. Ich weiß, und sei es nur für diesen Augenblick, dass meine Sorge nichts ändern wird und dass alles so ist, wie es sein soll. Dass ich zurechtkomme.
Bei Einbruch der Dunkelheit gehe ich die Wiese hinunter. Als ich unten ankomme, schallt mir aus dem großen Ahornbaum, der den Eckpunkt der Wiese bildet, Vogellärm entgegen. Der ganze Baum ist voll von Vögeln, und sie kreischen, krächzen und flattern, dass es sich anhört wie Stadiongetöse. Gebannt von der Bewegung und dem Lärm, schaue ich ihnen lange zu. Dann plötzlich großes Flügelrauschen im Gezweig, und der Schwarm fliegt auf, streicht über die Wiese, kurvt erst nach links, dann nach rechts und verschwindet hinter der Kirche. Als ich zurück in mein Zimmer komme, klingelt das Telefon. Es ist Julia, die mich bittet, die Patenschaft für ihr erstes Kind zu übernehmen, ihre Tochter Kate, die kurz nach meiner Rückkehr nach New York geboren wird.
Nachts höre ich den Wind hinter den Gebäuden heulen und an den Fenstern rütteln. Ich höre Geschrei auf dem Gang und frage mich, ob gleich jemand hereinplatzt wie am ersten Abend das dunkelhaarige Mädchen, das an der Tür auf die Knie fiel und mich fragte, ob ich Gott sei. Im Spalt unter der Tür sehe ich Licht. Mal ist es trüb, dann wieder hell, dann weg.
Tagsüber sitze ich in diesem Zimmer in einem Sessel, und mir ist leicht wie noch nie – als wäre eine unglaubliche Last von mir genommen –, bis Gesichter vor mir auftauchen wie Feuerwerke. Es kommen immer mehr, eins nach dem anderen, Gesichter aus meinem Leben, glaube ich, und deutlich spüre ich den Zorn, den Kummer, die Enttäuschung und Verachtung, die von ihnen ausgeht. Da wird es mir in dem Sessel wieder schwer, und manchmal sitze ich dort Stunden. Ich erinnere mich an mein Weinen und hoffe, die Tränen kommen wieder. Ich laufe im Zimmer hin und her und hinterlasse Nachrichten auf Handys und Mailboxen. Einige rufen zurück, andere nicht. Ich knie mich hin und bete. Um Hilfe. Um einen Ausweg. Um Vergebung. Ich denke an eins meiner Lieblingsgedichte und erkenne, wie prophetisch es gewesen ist. Ich denke an mein Leben zurück, wie wichtig es mir einmal war und dann auf einmal nicht mehr. Ich erinnere mich an die letzten Zeilen eines Buchs, die ich einmal zu verstehen meinte.
Wenn es sich anfühlt wie das Ende der Welt, ist es nicht das Ende.
Wie einen Rosenkranz bete ich diese Worte und flechte sie in Briefe ein und sage sie am Telefon und spreche sie auf der Wiese in den Wind. Ich höre auf, an sie zu glauben, bete aber, dass sie wahr sind. Sie sind es.
Ich denke an all die Taxifahrer und Hotelangestellten, die Dealer, die Süchtigen. Diejenigen, die vor Abscheu, Angst oder Ekstase zitterten, und diejenigen, die besänftigend meinten, alles werde gutgehen, alles werde gut. Ich frage mich, wen sie vor
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