Porträt eines Süchtigen als junger Mann
Spieß da anrichtet, und im selben Augenblick wird mir klar, dass ich nicht sterben will. Sterben scheint mir sogar das zu sein, was ich am allerwenigsten will. Ich höre auf, bin froh, dass nichts allzu Schlimmes passiert ist, halte den Arm unter kaltes Wasser, wickle Papiertücher drum und setze mich auf das schmale Bett am Fenster. Lange bleibe ich da sitzen. Ich schaue auf den Kirchturm und warte.
Bevor ich mit jemandem spreche, reisen die meisten aus meiner Familie wieder nach New England ab. Meine Mutter bleibt bei einer Freundin auf der Upper West Side, aber ich lasse sie nicht zu mir. Noah kommt ein paarmal und sieht besser aus denn je. An einem Tisch in der Cafeteria sitzt er mir gegenüber und beschämt und blendet mich. Ich wiege noch knapp 60 kg, fast zwanzig unter meinem Normalgewicht, die Pyjamahose und das Sweatshirt sind mir viel zu weit, und er strotzt vor Gesundheit in seinem Hemd von Agnes B., dem englischen Kragenpullover und dem schicken grauen Citymantel. Ich erinnere mich, wie er sich die einzelnen Sachen gekauft hat. Wir sprechen es nicht aus, aber es ist klar, dass alles vorbei ist, dass wir, nachdem wir so lange zusammengelebt haben, jetzt getrennte Wege gehen. Alles, was wir gewesen sind, die ganze zauberhafte, grausige Oper, ist vorbei. Nur ein Tisch ist zwischen uns, aber wir sind in verschiedenen Welten. Er kommt mir gar nicht wie ein richtiger Mensch vor, eher wie eine Gestalt aus einem Traum, ein nächtliches Wunder, das nach dem Aufwachen nur als Erinnerung weiterbesteht.
Und dann taucht Katherine auf. In einem Albtraum hat sie mich durch den Cityverkehr laufen sehen, zwischen Bussen und Taxis taumelnd, und ihren Vater angerufen, der gerade von jemandem aus unserer kleinen Stadt erfahren hat, dass es Probleme gibt. Katherine hat aufgelegt, ist zum Flughafen von Lubbock in Texas gefahren, wo sie wohnt, hat die nächste Maschine nach New York genommen und ist am Tag, bevor ich nach Hause gewankt bin und der Krankenwagen mich abgeholt hat, nach New York gekommen. Zwei Wochen lang harrt sie während der Besuchszeiten bei mir aus, meistens allein, immer mit einem Buch. Wenn ich Besuch bekomme, geht sie auf den Gang und liest, ist der Besuch weg und ich bin allein, kommt sie wieder.
Eines Nachmittags erzählt sie mir von der Flugzeugentführung, die wir in den Sommerferien zwischen dem letzten Grundschuljahr und der Highschool geplant hatten. Das Flugzeug nannte sich The Alaskan Express, und wir hatten mit Hilfe von Karten, Zeichnungen und Kostenrechnungen genau ausgetüftelt, wie wir damit zu einer einsamen Insel in der Karibik fliegen wollten. Unser Freund Michael, der ein Flugzeug steuern konnte – sein Vater, ein Pilot, hatte es ihm beigebracht –, war mit von der Partie. Alles ruft Katherine mir in Erinnerung – dass wir Samen mitnehmen wollten, um kunstvolle Gärten anzulegen, und nach Geräten zur Umwandlung von Salz- in Süßwasser gesucht hatten; dass wir uns sogar eine Methode überlegt hatten, die es uns erlauben würde, immer zusammenzubleiben, statt eigene Wege zu gehen. Ich hatte das Flugzeug vergessen, alles, was damit zusammenhing und wie machbar es uns damals erschien. Ich höre ihr zu und fühle mich wie damals mit zehn – beeindruckt von ihrem Wissen und dankbar für ihre Aufmerksamkeit. Aber meistens reden wir nicht. Sie hält meine Hand und wir sitzen genau wie damals, als es mit uns anfing, in einem Krankenhaus, still beieinander.
Nach zwei Wochen in Lenox Hill treffen Noah, Katherine und ich uns mit dem mir zugewiesenen Psychiater und sprechen über Entzugskliniken. Wir entscheiden uns für eine. Katherine fährt nach One Fifth und sucht ein paar Kleider und Bücher für mich zusammen. Sie hilft mir mit dem Gepäck hinaus auf die Straße, umarmt mich zum Abschied und kehrt nach Texas zurück. Wir verlieren uns wieder aus den Augen, sie geht nach Belize, und eine Zeitlang höre ich nichts von ihr, bis sie sich dann doch wieder meldet, per Mail oder per Telefon, und sich der Kreis für eine Weile schließt.
David, den ich seit unserem Frühstück im Marquet nicht mehr gesehen habe, wartet vor Lenox Hill an der Ecke 77th und Park Avenue mit seinem Jeep. Er ist sowohl herzlich wie vorsichtig, und so fahren wir weitgehend schweigend zu der alten Irrenanstalt in White Plains, NY , die jetzt ein psychiatrisches Krankenhaus mit dazugehöriger kleiner Entziehungsklinik ist. Wir halten an einem Drugstore in der Nähe der Klinik, und ich
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