Porträt eines Süchtigen als junger Mann
pflanzt sie überall – in Steingärten, die vom Rasen bis hinauf zum Wald reichen, entlang Gehwegen, in Töpfen, die auf Fensterbänken stehen, auf Treppenstufen.
Jetzt pflanzt sie gerade wieder, und er sitzt nicht weit von ihr auf einer mit Spielsachen übersäten Decke. Sie sind auf dem Rasen hinterm Haus, ganz am Rand, wo er ansteigt und zur sogenannten Mulde hin abfällt, einem tiefen, feuchten Rasenbecken, das von Granitfelsen durchbrochen wird. Auf dem Hügelkamm und in der Mulde steht dichtes Blaubeergestrüpp, dahinter ist der Wald.
Seine Mutter, unter einem riesigen Strohhut, ruft säuselnd seinen Namen. Die beiden Katzen sitzen am Rand der Decke und beobachten ihn. Er hört sie schnurren und möchte sie festhalten und ihre Weichheit und ihr Geschnurr an sich bringen, in sich hinein. Er greift nach ihnen, und sie miauen, ziehen sich friedlich zurück und legen sich weit genug weg wieder ins Gras.
Hinter den Katzen erstreckt sich der tiefgrüne Rasen zum Wald hin. Diese Dinge, diese Örtlichkeiten, die ganze Welt jenseits des unmittelbaren Bereichs seiner Decke und seiner Mutter, sind ihm erst seit kurzem bewusst. Jedes neue Wunder kommt aus dem Nichts, winkt und lockt. Eine Biene, ein am Himmel schwebendes Flugzeug, ein Ameisenhaufen neben der Decke, das Rauschen des Winds in den Bäumen. Er will alles auf einmal sehen, und zwar sofort.
Es ist der erste Sommer, in dem er laufen kann. Der erste Sommer, in dem er sich näher zu dem hinbewegen kann, was er will. Weg von dem, was er nicht will. Er trägt noch Windeln, aber das wird bald vorbei sein. Er schaut über die Anhöhe, die Mulde hinweg und sieht die schimmernde Pracht der Blätter und Zweige über einem Heer von Baumstämmen. Ein Windstoß versetzt das Laub in Aufruhr, und es ist ein Geräusch wie das Rauschen des Wassers aus dem Hahn, wenn seine Mutter ihm ein Bad einlässt. Doch dieses neue Rauschen ist lauter, wilder, aufregender als alles, was er je gehört hat.
Seine Mutter summt in den Blumen ein Lied und verscheucht Fliegen von ihrem Gesicht. Er steht von der Decke auf und wackelt auf den Grübchenbeinen. Ein neuer Windstoß sorgt für Chaos in den Bäumen. Sein Herz klopf heftig, und er peilt die Baumreihe an und setzt sich in Bewegung. Die herabstoßenden Vögel, der wellige grüne Rasen, die brummenden Insekten, die Samenbüschel und Sommerstäubchen, die in Zeitlupe durch die Luft schweben, die Blaubeersträucher am Waldrand – das alles tanzt vor ihm. Jeder neue herrliche Zentimeter lockt ihn, so dass er schneller, zielstrebiger, noch schneller geht, bis ihm das schließlich nicht mehr ausreicht und er zu laufen beginnt. Er läuft auf das obere Ende des Rasens, die knarrenden Äste, die blitzenden Blätter, die Geräuschlawine zu.
Er kommt über den Hügelkamm, und der Hang auf der anderen Seite ist auf einmal unerwartet steil. Die Beine wirbeln unter ihm, und er muss aufpassen, dass er nicht hinfällt. So schnell ist er noch nie gelaufen, und einen Moment lang spürt er einen Abstand zwischen sich und seinem Körper – als ob sich das eine vom anderen entfernt hat und die neue Geschwindigkeit jetzt miterlebt, aber nichts für sie kann. Der Rasen, seine Beine, sein Körper, alles verschwimmt unter ihm, und er gibt es auf, lässt sich von der Geschwindigkeit tragen.
Ein mächtiger Wind fährt durch die Mulde, und ihm ist, als würde er gleich losfliegen, als würde die Erde ihn freigeben und er über den Rasen hinaussegeln, über den Gemüsegarten und die Schaukel hin zu den Baumkronen. Von irgendwo ruft seine Mutter. Sie ruft seinen Namen, doch ihre Stimme ist fern und bekannt und liegt jetzt hinter ihm. Alles, was einmal seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hat, die großen und kleinen Dinge in seinem Kopf, alles verschwindet bei seinem Vorwärtslauf, die Beine rudern unter ihm, die Luft rauscht ihm ins Gesicht, Angst und Staunen brechen aus seinem kleinen Herzen hervor.
Als er den Hang hinunter schlittert – wieder etwas Neues, ein neuer Zauber –, durchblitzt Ruhe wie ein friedliches Gewitter seine in Aufruhr geratenen Gliedmaßen, erfüllt jeden Zentimeter des Dahinsausenden, liebkost ihn in den Sekunden, bevor er stolpert, bevor er sich Ellbogen, Knie und Gesicht an der Granitbank aufschrammt. Bevor er vor Schreck aufheult und seine Mutter sich mit flatterndem Hut und Tränen über ihn wirft. Bevor sie ihn an sich zieht und er seine Angst vergisst, weil vertraute Arme ihn umfangen,
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