PR Lemuria 03 - Exodus der Generationen
Er sah die Umgebung wie jemand, der wusste, dass er bald erblinden würde und deshalb versuchte, memoriale Bilder festzuhalten.
Wind wehte an diesem Tag, bewegte das Wasser und hinderte ihn daran, sein Spiegelbild im See zu sehen, und das andere Gesicht mit den großen braunen Augen, umrahmt von schwarzem Haar. Das Schaukeln des Bootes gefiel Deshans Rücken gar nicht, aber er drängte das Stechen an den Rand seiner Wahrnehmung. Ein anderer Schmerz rückte in den Vordergrund, der des Abschieds.
Miras Tod hatte ihn zum ersten Abschied von ihr gezwungen, und dies war ein zweiter, ebenso endgültig wie der erste und nicht weniger schwer. Halb in sich zusammengekauert saß er im Boot, in eine dicke Jacke gehüllt, die ihn vor der Kühle schützte. Der Schnee an den Hängen der Berge kündigte den nahen Winter an, und vielleicht wurde es diesmal so kalt, dass der See im Tal der Stille gefror. Die Vorstellung einer unter dem Eis gefangenen Mira gefiel ihm nicht, obgleich er wusste, wie unsinnig sie war.
»Ich komme heute zum letzten Mal hierher«, sagte er, und selbst die Worte waren schwer. »Morgen brechen wir auf, Paronn und ich. Morgen starten die ACHATI UMA und die GALAN BAL. Als Kommandant eines Exodus-Schiffes werde ich fast zwanzigtausend Lemurer zu den Sternen bringen. Und es ist gleichzeitig eine Reise in die Zukunft, Mira. Jeder Tag an Bord der GALAN BAL bedeutet hundert Tage hier.«
Er sah übers Wasser und lauschte dem Klatschen der Wellen am Bootsrumpf. Mehrere Vögel ließen sich weit oben vom Wind tragen, und einige Sekunden lang beneidete Deshan sie. Vögel lebten einfach nur, mussten weder schwierige Entscheidungen treffen noch Verantwortung tragen. Aber vielleicht gibt es selbst für solche Ge-schöpfe leichte und schwere Dinge, dachte er.
»Ich werde nie hierher zurückkehren, Mira. Von jetzt an bist du allein an diesem Ort.« Deshan lauschte dem Klang dieser Worte; sie hörten sich schrecklich falsch an. »Nein, das stimmt nicht«, fügte er hinzu. »Du wirst nicht allein sein, denn ich trage dich in mir, in meinen Erinnerungen, und im Herzen. Solange ich lebe.« Er tastete kurz nach dem Zeilaktivator auf seiner Brust, ließ die Hand dann wieder sinken. »Und vielleicht lebe ich sehr, sehr lange.«
Er starrte ins türkisfarbene Wasser und suchte nach Worten. »Zwei unserer Ururenkel befinden sich an Bord der ACHATI UMA, außerdem auch mehrere Angehörige des Hauses Rusun, das seit der Heirat von Morneas Enkelin Gildia mit unserem verbunden ist.« Mornea, ihr elftes und letztes Kind, geboren im Jahr 4534. Sie war schon seit einigen Jahren tot, wie alle anderen Söhne und Töchter Deshans. Er stellte sie sich gern bei Mira vor, die Familie vereint - es fehlte nur der Lebenspartner und Vater. »Und einige Mitglieder deines Hauses sind unter den Reisenden meines Schiffes, der GALAN BAL. Stell dir vor: Die Namen Lemroth, Apian und Rusun werden die Sterne erreichen.«
Er schwieg eine Zeit lang, und bei den nächsten Worten war seine Stimme nicht mehr als ein Flüstern. »Aber du bleibst hier, allein.«
Der Wind schien ihm zu antworten, ein Raunen und Wispern, das übers Wasser strich, den Wellen Kronen aus Schaum gab. Er erzählte von Kälte, von Eis und Schnee, von Einsamkeit.
Deshan spürte, wie ihm die Wangen feucht wurden. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir leid, dass ich dich hier allein zurücklasse. Bitte warte auf mich, auch wenn es ein wenig länger dauert.«
Und dann gab es nichts mehr zu sagen, und gleichzeitig mehr, als man an einem Tag sagen konnte, und Deshan kehrte zum Ufer zurück, zum letzten Mal.
Levian Paronn blickte von dem fast hundert Quadratmeter großen Bildschirm an der vorderen Wand des Kontrollzentrums.
»Wohlergehen dir, Deshan Apian«, sagte er. Seine Stimme tönte überall an Bord der beiden letzten Exodus-Schiffe aus den Lautsprechern. Tausende von lemurischen Emigranten hörten sie, und sie wurde auch nach Lemur übertragen. »Ich danke dir für die ge-leisteten Chronistendienste. Deine Geschichten reisen mit mir in die Zukunft, um Lemurs Enkeln und Urenkeln vom Exodus der Generationen zu berichten. Wohlergehen euch allen, die ihr aufbrecht, um Lemurs Saat auf fernen Welten auszubringen. Meine guten Wünsche begleiten euch alle.«
»Wohlergehen dir, Levian«, murmelte Deshan Apian, als Paronn vom Bildschirm verschwand. Das Weltall kehrte zurück, und die fernen Sterne.
»Alle Systeme bereit«, meldete der Cheftechniker der GALAN BAL.
Deshan nickte und
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