PR NEO 0050 – Rhodans Weg
leise. »Niemand weiß, dass du hier bist. Bleib, dann kann dir nichts geschehen.« Sie nahm Mirage an der Hand. Das Mädchen ließ es mit sich geschehen. »Ich komme bald wieder«, versprach sie, »und bringe dir neues Wasser.«
Monk antwortete nicht. Er beugte sich vor, barg den Kopf zwischen den Händen und wimmerte.
Draußen, auf dem halb verschütteten Korridor, wandte sich Sue an Mirage: »Du sagst niemandem etwas hiervon! Versprichst du das?«
»Ist Monk böse?«
»Nein, er hat nur Angst. So wie du und ich. Er ist auf unserer Seite. Aber nicht alle werden das verstehen, deshalb darf niemand von Monk erfahren. Verstehst du das?«
Mirage nickte langsam.
»Gut. Jetzt geh du voraus! Es ist am besten, wenn uns niemand zusammen sieht. Und mach dir keine Sorgen. Alles wird gut!«
Mirage zögerte, dann riss sie sich zusammen und verschwand im trüben Licht der Notbeleuchtung.
Sue wartete einige Minuten, dann folgte sie dem Mädchen. Sie nahm ihre Umgebung kaum wahr. Ihre Gedanken rasten. Monk hatte Angst. Vor einem Schatten. War er endgültig durchgedreht? Oder steckte einer der Mutanten dahinter, dessen Gabe sich so stark verändert hatte, dass Monk sie nicht zu blockieren vermochte? Oder ... Ihr kam eine Idee. Der Schatten. André Noir, der Einzelgänger, hatte sich »Shadow« genannt, als er vor Monaten seine Herrschaft über Chittagong errichtet hatte. Noir war angeblich tot – aber angeblich konnte er Menschen und Gegenstände zwischen Alternativuniversen verschieben. Versuchte Noir nach Lakeside zu gelangen?
Unwahrscheinlich, weit hergeholt – aber nicht unmöglich. Sie dachte an Mirage, die innerhalb von wenigen Minuten vor ihren Augen vom Kind zur Frau gereift war. Wie hatte sie gesagt? »Ich habe immer davon geträumt, groß zu sein!«
Das hatte Sue auch. Und jetzt war sie es. Verdammt groß – und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder klein zu sein.
4.
Oktober 2010
Manchester, Connecticut
Ein Klopfen. Leise, aber fordernd.
Perry Rhodan, der den Nachmittag vor dem Computer versunken in »Starcraft II« verbrachte, das ihm ein Freund geliehen hatte, horchte auf.
Da war das Klopfen wieder. Gefolgt von einem Flüstern: »Deb?«
Perry schlich auf Zehenspitzen zum Fenster. Ihr Haus war alt, das älteste in der ganzen Straße, und sein Holzboden war verräterisch. Man musste umsichtig sein und genau wissen, wo man den Fuß aufsetzte. Der Elfjährige, der sein ganzes Leben in dem Haus verbracht hatte, kannte jede einzelne Diele und vermochte sich mit der Lautlosigkeit eines Gespensts darin zu bewegen.
Perry duckte sich vor dem Fenster, damit man ihn von unten nicht sehen konnte, und lauschte.
»Deb, bist du da?«
Perry erkannte die Stimme. Sie gehörte Tin Can. Da war eine Schärfe, die sich durch alles zog, was Tin Can anfing.
»Was gibt's?«, antwortete eine zweite Stimme. Ebenfalls ein Flüstern. Die eines Mädchens. Sanfter. Aber auch sie, stellte Rhodan in diesem Augenblick fest, hatte eine Schärfe an sich, die ungewöhnlich war.
»Wir sind verabredet, Deb«, sagte Tin Can.
»Sind wir das?«
»Klar, unser spezieller Ride. Hast du es etwa vergessen?«
»Wie könnte ich das?«
Eine kurze Pause. Dann schnappte Tin Can: »Mach nicht blöd rum. Kommst du?«
»Gleich.«
Perry hörte, wie Deb in ihrem Zimmer, das unter seinem lag, rumorte. Der Junge wagte einen Blick über die Fensterbank. Tin Can war hässlich. Ein flaches, breites Gesicht mit einer viel zu kleinen Nase. Als hätte es jemand aufgemalt, hatte einmal in der Schule ein Junge Tin Can gehänselt. Tin Can hatte dem Jungen die Nase gebrochen.
Tin Can hatte eine Schachtel Lucky Strike hervorgeholt und zündete sich mit einer Angebergeste eine Zigarette an: Er strich das Streichholz über seinen Brustprotektor.
Er war silbern. Wie die weiteren Protektoren, die Tin Can trug, wie die Ellenbogen- und Knieschützer und die Stiefel. Wie der Helm, den er lässig unter einen Arm geklemmt hatte und gegen die Seite presste. Zog er ihn auf, erinnerte der Junge an einen Ritter – oder an eine Blechbüchse, eben eine Tin Can. Es war als Beleidigung gedacht gewesen, als man in der Schule angefangen hatte, Vince Tortino so zu rufen. Doch Vince hatte die Beschimpfung aufgenommen, als hätte man ihm einen Ball zugeworfen. Vince hatte ihn einfach geschnappt und behalten.
Inzwischen gab es viele Kinder, die vergessen hatten, dass Tin Can nicht sein richtiger Name war. Tin Can war bekannt und gefürchtet. Und geachtet. Auch von
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